Stuttgart

Grünen-Parteitag: Palmer überschattet alles

Neue Rassismus-Vorwürfe gegen den Tübinger OB drängen den Koalitionsvertrag in den Hintergrund. Trotz hoher Zustimmung wird der nicht nur gelobt.

10.05.2021

Von Theo Westermann

„Ich kann und will nicht widerrufen“: Boris Palmer verteidigt sich auf dem digitalen Landesparteitag. Foto: Marijan Murat

„Ich kann und will nicht widerrufen“: Boris Palmer verteidigt sich auf dem digitalen Landesparteitag. Foto: Marijan Murat

Bevor der Parteitag der Grünen zum Koalitionsvertrag am Samstag in Stuttgart überhaupt anfängt, hat er schon sein Aufregerthema. Boris Palmer bringt die ausgeklügelte Strategie, die auf positive Schlagzeilen angelegt ist, ins Wanken. Der Oberbürgermeister von Tübingen hatte sich via sozialer Netzwerke in die Debatte um die verbalen Fehltritte der einstigen Fußballprofis Jens Lehmann und Dennis Aogo eingemischt.

Dabei hatte er in einem Post mit Bezug auf Aogo das „N-Wort“ in Verbindung mit dem männlichen Geschlechtsteil gebraucht, was im Netz seit Freitag einen Shitstorm auslöste. Die Netzgemeinde wirft ihm Rassismus vor. Palmer wiederum verweist in einer Gegenwehr via Facebook darauf, dass er einen im Netz kursierenden Post mit diesem auf Aogo gemünzten Begriff aufgegriffen, als Zitat verwendet und ironisch überzeichnet habe. Er sieht modernes Jakobinertum am Werk.

Der Grünen-Politiker liegt seit Jahren mit seiner eigenen Partei über Kreuz. Bereits exakt vor einem Jahr hatte der Landesvorstand ihn zum Austritt aus der Partei aufgefordert und sich ein Parteiordnungsverfahren vorbehalten. Anlass waren Äußerungen zu älteren Corona-Patienten.

Am Samstagmorgen geht dann für den Digitalparteitag ein Antrag auf die Prüfung eines Parteiausschlussverfahren ein. Der Parteivorsitzende Oliver Hildenbrand wirft Palmer einen „kalkulierten Tabubruch“ vor und sieht bei ihm eine „neuerliche Entgleisung“. Die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock geißelt die Äußerung im Lauf des Samstags als „rassistisch und abstoßend“. Am Ende des Parteitags legt Hildenbrand nach und wirft seinem Noch-Parteifreund „populistisch-destruktive Denkweise“ vor.

Partei will Ausschluss Palmers

Palmer antwortet dem Parteitag digital zugeschaltet: „Ich habe Aogo in Schutz genommen.“ Er wehre sich gegen jede Form von „Cancel Culture“. Seine Verteidigung von Aogo solle nun rassistisch umgedeutet werden. „Ich kann und will nicht widerrufen.“ Er wolle sich aber vor einem Parteigericht stellen.

Die große Mehrheit stimmt schließlich für die Einleitung eines Parteiordnungsverfahrens. Ministerpräsident Winfried Kretschmann nennt die Äußerungen eines Oberbürgermeisters unwürdig. „Das dient weder seinem Anliegen noch dient es einer Debatte, die Niveau hat“.

Als es dann um den Koalitionsvertrag geht, gibt es keine Redner, die nicht zu Superlativen für den „großen Wurf“ greifen, die „Verkörperung der Pariser Klimaziele“, die „grüne Tinte“, mit der er geschrieben worden sei. Doch neben viel Eigenlob gibt auch Zwischentöne. Denn manchem Grünen liegt der finanzielle Vorbehalt auch für Projekte des Klimaschutzes quer.

Zwar votieren am Ende des Parteitags 188 Delegierte für die Annahme des Koalitionsvertrags, 23 dagegen und neun enthalten sich, doch das Grundrauschen eines gewissen Unmuts ist erkennbar. Kretschmann wirbt in seiner Rede um die Basis: „Die Folgen von Corona werden uns noch lange beschäftigen: Der finanzielle Spielraum ist sehr gering.“

Aber es sprächen alle Daten dafür, dass es wieder schnell zu einer wirtschaftlichen Erholung komme, sagt Kretschmann – sprich, dass die Steuernahmen wieder sprudeln. Es gehe also um „Dinge, die „derzeit“ nicht finanziert werde können. Das sehen in der Partei nicht alle so.

Die Äußerung der Landesvorsitzenden Sandra Detzer, dass man zur Bekämpfung des Klimawandels finanziell bis an die Grenzen des verfassungsrechtlich Gebotenen gehen müsse, hat Anhänger in der Landespartei. Und diese melden sich auf dem Parteitag: „Es darf keinen Haushaltsvorbehalt für die Klimakrise geben“, sagt die Kommunalpolitikerin Lena Schwelling aus Ulm, die als künftige Landesvorsitzende gehandelt wird. Die Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner kritisiert die schwarze Null: „Wir wollen die Schuldenbremse um eine Investitionsregel ergänzen.“

Auch das Verhältnis zur CDU ist für manchen noch lange nicht repariert. Das Lob des Ministerpräsidenten für den Koalitionspartner teilt nicht jeder: „Wir wissen, dass wir der Union nicht trauen können“, sagt ein Delegierter. Die Zahl der Ministerien für die CDU, die der Staatssekretäre sehe man kritisch.

Beim Fokus auf die Klimapolitik gehen die anderen Themen in der Debatte fast unter. Eine politische offene Flanke, die der Fraktionschef Andreas Schwarz erkennt. Er legt in seiner Rede einen klaren Fokus auf die Bildungspolitik.

Auch Hildenbrand zählt weitere Punkte auf dem grünen Konto jenseits des Klimaschutzes auf: etwa eine Enquetekommission, wie man die Gesellschaft krisenfester machen könne, eine diskriminierungsfreie Gesellschaft oder die Veränderung des Wahlrechts.

Cem Özdemir ergreift ebenfalls das Wort. „Lasst uns Winfried mit einem starken Mandat ausstatten“, appelliert er an die Delegierten.

Nach der Mehrheit für den Koalitionsvertrag macht der Ministerpräsident nicht mehr viele Worte. „Wir werden uns mit aller Kraft unseren Aufgaben widmen“ sagt er zum Schluss.

Verfahren dauert mehrere Monate

Die Grünen rechnen damit, dass das Ausschlussverfahren gegen den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer zwischen drei und sechs Monate dauern könnte. Das erfuhr die dpa aus der Grünen-Landesspitze. Der Landesparteitag hat am Samstag mit einer Dreiviertel-Mehrheit beschlossen, dass der Landesvorstand das Parteiordnungsverfahren vorbereiten und beim zuständigen Schiedsgericht einreichen soll. Zuständig dürfte der Kreisverband Tübingen sein. - dpa

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Erstellt:
10.05.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 24sec
zuletzt aktualisiert: 10.05.2021, 06:00 Uhr

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