Dokumentation

Boris Palmers Briefe an die AL und den Kreisverband der Grünen

In zwei Briefen hat sich Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer an den Grünen-Kreisverband und an die Alternative Liste gewandt. Im einen erklärt er sich zu seinem umstrittenen Facebook-Kommentar, im anderen wirbt er um Unterstützung für eine erneute Kandidatur.

14.05.2021

Von ST

Boris Palmer. Bild: Hans-Jörg Schweizer

Boris Palmer. Bild: Hans-Jörg Schweizer

Wir doumentieren beide Schreiben mit seiner Zustimmung im Wortlaut.

Mit diesem Brief, verschickt vor der jüngsten Kontroverse, wirbt Boris Palmer bei der Tübinger Alternativen Liste um Unterstützung für eine Kandidatur für eine dritte Amtszeit als Tübinger OB:

„Liebe ALer in Vorstand und Mitgliedschaft,

Im Oktober 2022 findet die nächste OB-Wahl statt. Es wird also Zeit zu klären, wer dann für uns antritt. Was mich und meine Eigenschaften angeht, bin ich nach 15 Jahren im Amt geneigt, Angela Merkel und Winfried Kretschmann zu zitieren: „Sie kennen mich.“

Wir haben mit einer starken Fraktion und einem von derzeit nur drei grünen Oberbürgermeistern in Baden-Württemberg gemeinsam viel erreicht. Tübingen ist bei urgrünen Themen in Deutschland ganz vorne. Und nicht nur das, wir haben das Dreieck der Nachhaltigkeit zum Leitstern unseres Handelns gemacht und stets auf den Ausgleich von Ökologie, Ökonomie und Sozialem geachtet.

Den Ausstoß von CO2 in der Stadt konnten wir um mehr als ein Drittel senken. Den Flächenfraß haben wir beendet und neue Gebäude fast ausschließlich auf Recyclingflächen wie Industriebrachen oder Parkplätzen untergebracht. Nach Jahrzehnten der Debatte ist der neue Busbahnhof endlich in Bau, die rad- und fußfreundliche Umgestaltung der Stadt ist in vollem Gange. Wir haben eine Solarpflicht eingeführt, Carsharing auf öffentlichen Straßen ermöglicht, die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien verzehnfacht und die Fernwärme ausgebaut. Im Januar werden wir als erste Stadt in Deutschland eine Verpackungssteuer einführen. Und von Lustnau bis Unterjesingen ist die erste Strecke der Regionalstadtbahn in Tübingen im Bau.

Die AL hat sich seit ihrer Gründung immer als sozialökologische Kraft begriffen und so haben wir unsere Stadtpolitik auch ausgerichtet. Wir haben mehr Kinderbetreuungsplätze als jede andere Stadt in Deutschland geschaffen, mit der Bonuscard ermöglichen wir Teilhabe für alle und fördern Kinder ganz besonders. Unser bundesweit einmaliges Wohnkonzept für Flüchtlinge mit über die ganze Stadt verteilten Baugemeinschaften hilft bei der Integration und wurde gerade erst mit einem Preis gewürdigt. Wir haben mehr Sozialwohnungen gebaut als jede andere Stadt in Baden-Württemberg und mit dem Programm fairer Wohnen Standards gesetzt, die andernorts als Vorbild gelten. Die Dachgenossenschaft Wohnen ist das neueste Beispiel unserer innovativen Sozialpolitik.

Möglich war all das, weil die Wirtschaft in Tübingen gewachsen ist. Ich weiß, dass nicht alle das positiv sehen, weil es eben Wachstum ist. Tatsache ist aber, wir haben heute dreifach höhere Gewerbesteuereinnahmen als vor 15 Jahren und 10.000 neue Arbeitsplätze in der Stadt. Tübingen ist in der Weltspitze bei künstlicher Intelligenz und der Entwicklung von Impfstoffen, wir sind landesweit zum Zentrum für neue Technologien wie Batteriezellfertigung, Umwelttechnik, Medizintechnik und IT geworden. Angesichts des bevorstehenden Wandels im Autoland Baden-Württemberg glaube ich, dass wir für diese Entwicklung noch sehr dankbar sein werden. Denn Umwelt, Soziales, Bildung und Infrastruktur müssen bezahlt werden. Während Reutlingens Haushaltsplan in Folge der Corona-Krise einen Anstieg seiner Schulden auf 2000 Euro pro Kopf erwarten lässt, werden wir mit 600 Euro pro Kopf glimpflich davon kommen. Unsere Investitionen sind mittlerweile pro Kopf doppelt so hoch wie die in der Nachbarstadt.

In Tübingen wird nachhaltige Politik gelebt und gemacht.

Wahlen sind aber Entscheidungen für die Zukunft, nicht über die Vergangenheit. Die Frage an Euch lautet also, ob Ihr mir zutraut, die Stadt auch in den kommenden Jahren zu führen und die richtigen Entscheidungen zu ermöglichen. Die letzten Monate haben mich für eine erneute Kandidatur motiviert. Der nahezu einstimmige Beschluss für das Klimaschutzprogramm 2030 und der erfolgreiche Tübinger Weg in der Corona-Pandemie haben mir eindrücklich gezeigt, wie gut Gemeinderat, Bürgerschaft und Stadtverwaltung zusammenwirken und wieviel wir in unserer kleinen großen Stadt gemeinsam erreichen können.

Tübingen bis 2030 klimaneutral zu machen, das ist eine Aufgabe, für die ich mich gerne weitere acht Jahre verpflichten würde, wenn ich die AL an meiner Seite weiß. Und mit dem Bundesverfassungsgericht und möglicherweise einer grünen Kanzlerin, mindestens aber eines grünen Umweltministers und einer Klimaschutzregierung im Land haben wir dafür endlich die nötige Unterstützung höherer Institutionen.

Nun meine Frage an Vorstand und Verein: Bin ich der richtige Kandidat für die AL bei der OB-Wahl 2022? Wollen wir gemeinsam eine Agenda für die 20er Jahre in Tübingen erarbeiten und umsetzen? Gerne stehe ich zu einem Gespräch darüber zur Verfügung.

Mit grünen und alternativen Grüßen

Boris Palmer“

Diesen Brief schrieb Boris Palmer an den Kreisverband der Grünen:

„Liebe Freundinnen und Freunde,

Und ja, auch liebe Gegnerinnen und Gegner in unserem grünen Kreisverband,

Wieder einmal ein Brief. Wieder einmal ein bundesweiter Shitstorm. Wieder Ausschlussforderungen. Und nun wieder Rechtfertigungen? Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr euch das auf die Nerven geht. Ich schreibe euch deshalb heute sehr persönlich.

Kurz vorab: Was ist passiert?

Ich wollte einem meiner langjährigen innerparteilichen Gegner aus der Grünen Jugend in Rheinland-Pfalz zu verstehen geben, wie absurd ich seine konstruierten Rassismusvorwürfe finde, indem ich ihm einen Rassismusvorwurf präsentiere, der eine verleumderische Vorlage so weit in das Groteske überzieht, dass es sogar ihm auffallen müsste. Gewissermassen pädagogische Satire. Was der daraus machen würde, hätte ich mir zwar denken müssen, konnte es mir aber schlicht nicht vorstellen. Den Vorwurf der Naivität lasse ich mir deshalb gefallen.

Vorausgegangen war ein Facebook-Post, indem ich mich mit dem Fußballnationalspieler Dennis Aogo solidarisiert habe. Er hatte davon gesprochen, dass Spieler „trainieren bis zum vergasen.“ Eine Redewendung, die ich früher oft gehört habe, die nicht mal etwas mit der Nazibarbarei zu tun hat. Wegen eines Verstoßes gegen die Werte seines Fernsehsenders soll er nun von der Bildfläche verschwinden. Das finde ich falsch. Die Welt wird einfach nicht besser, wenn Menschen ihre Existenz verlieren und geächtet werden, weil sie einen unbedachten Satz gesagt haben. Als Reaktion auf meine Verteidigung für Aogo schrieb eben jener Parteifreund aus Rheinland-Pfalz: „Na, mal wieder Rassismus relativieren?“. Und dann nahmen die Dinge ihren Lauf. Vorausgesehen habe ich davon nichts. Da war kein Kalkül oder gar eine Provokation.

Ich habe öffentlich viel dazu gesagt, was ich für die Ursachen der regelmäßigen Konflikte dieser Art halte. Cancel Culture, Political Correctness, „selbstgerechte Lifestylelinke“ in der „Generation beleidigt“, identitätspolitischen Fundamentalismus. Darüber gibt es in unserer Partei einen großen Streit. Den hier auszuführen bringt aber sicher nicht weiter. Ich hoffe, dafür finden sich noch geeignete Debattenformate.

Ich will hier etwas anderes fragen. Was ist es, das mich immer wieder in derartige Auseinandersetzungen verstrickt? Was ich im Grübeln darüber gefunden habe, will ich euch schildern. Einfach weil ich glaube, der Versuch, sich zu verstehen, ist produktiver, als der Wunsch nach Verurteilung.

An meinem Vater und meiner Jugend komme ich nicht vorbei. Sowieso nicht, und jetzt erst recht nicht. Ich bin ein Bauernkind. Auf dem Land aufgewachsen. Harte Arbeit ab 3 Uhr in der Frühe. Derbe und rohe Sprache war normal. Ich fand da nie etwas dabei. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich bin ein Bildungsaufsteiger. Das erste Kind in der Familie, das studieren konnte. Meine Eltern hatten beide kein Abitur. Gutbürgerliche Kinderstube darf man bei mir nicht suchen. Ich kann mich akademisch ausdrücken, aber das Manierierte liegt mir nicht. Sittenvorschriften, das Höfische Verhalten, Sprachkodizes – alles fern meiner Sozialisation. Auf dem Klo meiner Eltern hängt bis heute ein Lutherspruch: „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“. Einen Mohrenkopf oder einen Negerkönig finde ich schlicht nicht anstößig.

Und mein Vater ging ja noch viel weiter. In seinem „Kampf und Widerstand im Filbingerland“, so der Titel eines seiner Bücher, lehnte er sich mit Wortgewalt und oft auch mit rohesten Begriffen gegen manchmal objektiv an ihm begangenes Unrecht, manchmal auch nur subjektive empfundene Kränkung auf. Er ging für seine Überzeugungen 18 Monate ins Gefängnis. Zu keinem Zeitpunkt leistete er Abbitte. Jedes seiner Bücher unterschrieb er mit „Nulli cedo“. Ich weiche niemals. „Lieber aufrecht sterben wie ein Baum“, sagte er mir noch auf dem Sterbebett. Ich habe das trotz aller Vater-Sohn-Konflikte bewundert und verinnerlicht. Zur eigenen Meinung zu stehen, äußerem Druck nicht gegen die eigene Überzeugung nachzugeben, das ist ein Erbe, das ich nicht preisgebe.

Wegen Beamtenbeleidigung und einer bezahlten, aber nicht korrekt verbuchten Geldstrafe, war mein Vater Ende der 70er Jahre insgesamt fünf Monate im Gefängnis. In der JVA Stammheim. Mit den Terroristen der RAF. Vor einem Besuch wurden wir Kinder auf die Unterhose ausgezogen, um Bomben zu suchen. Meinen Vater sah ich auf der anderen Seite einer Panzerglasscheibe. Wir legten die Hände auf das Glas. Näher konnten wir uns nicht kommen. Ein Beamter protokollierte jedes Wort. Auf Freiheitsentzug reagiere ich sensibel bis allergisch. Und das fängt an, wenn mir eine Haltung aufgezwungen, das Wort verboten werden soll.

Sandra Kostner hat genau das als den Kern der Political Correctness beschrieben: Den Menschen ein identitäres Weltbild aufzwingen. Die Methoden werden nach meiner Wahrnehmung immer brachialer. Längst sind gesellschaftliche Ächtung, Vernichtung der bürgerlichen Existenz und moralische Diskreditierung akzeptierte Methoden geworden. Diesen Bannstrahl muss mittlerweile jeder fürchten, der in die Schusslinie eines juste Milieu gerät, das nur seine eigene Wahrheit gelten lässt.

„Allesdichtmachen“ konnte man furchtbar schlecht finden. Aber deswegen Auftrittsverbote für Tatortkommissare fordern (hat ein SPD-Minister gemacht), das ist für mich ein Abgrund an Intoleranz. Das Beispiel scheint mir wichtig, weil es zeigt, dass es längst nicht mehr nur um Rassismus geht, den Standardvorwurf in identitätspolitischen Konflikten. Selbst Satire, Kunst und Kultur sind bei einem Thema wie Corona nicht mehr vor dem modernen Jakobinismus sicher.

Ihr erinnert Euch an den letzten Schlamassel: „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Auch damals gab es Austrittsforderungen. Und wenn wir darauf heute zurückblicken? Es gibt nur wenige Städte, in denen die alten Menschen so gut geschützt wurden, wie in Tübingen und so viele Anstrengungen unternommen wurden, das Leben aller Menschen erträglicher und freier zu gestalten. Was ich damals gemeint habe, und das konnte im Kontext jeder verstehen, habe ich ein Jahr lang mit der mir eigenen Beharrlichkeit und mit Lisa Federle weiter verfolgt, obwohl mir böswillig von den eigenen Parteifreunden Sozialdarwinismus und Euthanasie unterstellt wurde. Wäre ich nicht der Sohn meines Vaters hätte ich diese Kraftanstrengung nicht einmal versucht. Ich bin ich. Im Guten wie im Schlechten. Und ich wünsche mir wie jeder Mensch, dass ich so wie ich bin angenommen werde. Ich will mich nicht für etwas abstrafen lassen, das ich nicht bin.

Ich fürchte angesichts der Entwicklung der letzten Jahre wirklich um den Kern der liberalen Demokratie. Wie Caroline Fourest es ausdrückt: Die Antirassisten sind die neuen Rassisten. Im Namen des Guten werden die Methoden des Bösen eingesetzt. Wenn wir nicht aufpassen, sind wir in kurzer Zeit eine hasserfüllte und gesprächsunfähige Gesellschaft wie die USA. Das Ergebnis war Donald Trump. Dieser Entwicklung entgegenzutreten ist mein Motivation. Ich habe nicht die Wahrheit für mich gepachtet, ich kann schon in der Diagnose falsch liegen. Aber was ich tue, tue ich, um die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie zu verteidigen. Dabei begehe ich Dummheiten, wegen derer ich mir selbst anschließend die Haare raufe. Aber ich stehe für eine Überzeugung ein, die ich mit reinem Gewissen und dem Herz am rechten Fleck vertrete.

So persönlich und vielleicht auch pathetisch belasse ich es heute. Alles andere wird sich finden.

Mit grünen Grüßen

Euer

Boris Palmer“

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Erstellt:
14.05.2021, 17:15 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 57sec
zuletzt aktualisiert: 14.05.2021, 17:15 Uhr

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