Grüne

„Verzögerungstaktik“ bei Partei-Rauswurf? Palmer geht in die Offensive

Gegen Boris Palmer läuft ein Parteiausschlussverfahren – dachte man. Tatsächlich tut sich nichts. Nun geht der Tübinger OB selbst in die Offensive und will die Hängepartie beschleunigen.

10.11.2021

Von Roland Müller

Pocht auf sein Recht, sich endlich verteidigen zu dürfen: Der Tübinger OB Boris Palmer. Bild: Sebastian Gollnow/dpa

Pocht auf sein Recht, sich endlich verteidigen zu dürfen: Der Tübinger OB Boris Palmer. Bild: Sebastian Gollnow/dpa

Stuttgart. Hat Boris Palmer noch eine Zukunft bei den Grünen? Um den Streit zwischen dem umstrittenen Tübinger OB und seiner Partei ist es ruhig geworden. Zu ruhig für Palmers Geschmack. Doch nun geht er in die Offensive – und will selbst eine Entscheidung der „P-Frage“ herbeiführen. Sein Anwalt Rezzo Schlauch hat laut eigener Aussage einen Antrag beim Landesschiedsgericht eingereicht, der die Partei unter Zugzwang setzen soll.

Im Kern wirft Schlauch der Parteispitze eine Verzögerungstaktik vor, die seinem Mandanten „einen fortdauernden Schaden seines öffentlichen Ansehens“ zufüge, ohne dass er sich verteidigen könne, wie es in einer Presseerklärung Schlauchs heißt. Denn obwohl der Landesparteitag im Mai beschlossen hatte, ein Parteiausschlussverfahren gegen Palmer anzustrengen, sei seither „entgegen dem in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Eindruck“ rein gar nichts passiert, ein Verfahren noch nicht mal in Gang gekommen. Die Chance auf Verteidigung werde Palmer so verwehrt, „weil gar kein konkreter Vorwurf vorgetragen wird“.

Dabei unterstellt Schlauch bei der „gewollten Verzögerung“ Kalkül: Die Parteiführung habe unliebsame Schlagzeilen im Bundestagswahlkampf vermeiden wollen, aktuell wolle man die laufenden Koalitionsverhandlungen nicht stören. Zudem solle das Thema laut Schlauch möglichst weit in die Phase der Nominierung für die OB-Wahl in Tübingen verschleppt werden, wo Palmer um Unterstützung wirbt.

Das „Gesamtbild der Verfahrensführung“ lasse nur den Schluss zu, dass „die Partei alle juristische und kommunikative Energie einzig und allein darauf ausgerichtet hat, meinem Mandanten ein faires und rechtlich ordnungsgemäßes Verfahren zu verweigern“, schreibt Schlauch. Um dem zu begegnen, habe sich Palmer entschieden, mit einem „negativen Feststellungsantrag“ den „Stier bei den Hörnern“ zu packen. Der Antrag lautet, dass die Partei „keinen Rechtsanspruch auf Ausschluss aus der Partei hat“. Damit müsse sich das Gremium nun befassen.

Der Streit zwischen Palmer und seiner Partei schwelt seit Jahren. Anlass sind inhaltliche Differenzen etwa in der Flüchtlingsthematik, aber auch immer wieder Äußerungen Palmers, die manche provokant oder umstritten nennen, andere aber als schlicht rassistisch oder menschenverachtend einstufen. So hatte Palmer im Frühjahr 2020 im TV zur Lockdown-Politik gesagt: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Die Empörung war groß. Im Zusammenhang mit dem Ex-Fußballer Dennis Aogo benutzte er auf Facebook das „N-Wort“ in vulgärem Zusammenhang – angeblich satirisch gemeint.

Nach den Eklats fühlt sich Palmer meist missverstanden, macht geltend, dass Zitate aus dem Kontext gerissen würden, entschuldigte sich aber auch schon öfter. Da die Aogo-Äußerung wenige Tage vor dem Landesparteitag im Mai fiel, beschlossen die Delegierten dort prompt ein Ausschlussverfahren. Während des Wahlkampfs wurde das Thema aber tunlichst von beiden Seiten beschwiegen. In Tübingen steht Palmers politische Zukunft auf der Kippe: Im Herbst 2022 ist OB-Wahl, die Grünen wollen eine Kandidaten-Urwahl, eine starke grüne Konkurrentin tritt an.

Die Partei will sich durch den neuen Vorstoß Palmers nicht drängen lassen. Der Landesverband nehme den Antrag von Rezzo Schlauch im Fall Palmer „gelassen zur Kenntnis“, teilte ein Sprecher auf Anfrage mit. Die Vorwürfe seien falsch, das Verfahren keineswegs verzögert worden: „Die Vorbereitung eines Parteiordnungsverfahrens ist aufwendig.“ Jeder Schritt benötige große Sorgfalt und entsprechende Vorbereitung. Ein Grund für die lange Dauer seien auch die die lange Vorgeschichte – und die Vielzahl der Verfehlungen in Palmers Akte: „Es handelt sich um eine lange Liste von provokanten und unangemessenen Äußerungen und Aktionen, die über Jahre aufgetreten sind und die im Hinblick auf ein Parteiordnungsverfahren momentan sorgfältig zusammengestellt werden.“

Grünen-Urgestein

und Rechtsanwalt

Rezzo Schlauch (74) ist seit 1980 Mitglied der Grünen: Er war von 1998 bis 2002 Chef der Bundestagsfraktion, zuvor auch schon Fraktionschef im baden-württembergischen Landtag gewesen. Als Anwalt hatte er bereits Boris Palmers Vater, den „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer verteidigt. Derzeit vertritt er den umstrittenen Tübinger OB im Streit mit den Grünen.

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Erstellt:
10.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 57sec
zuletzt aktualisiert: 10.11.2021, 06:00 Uhr

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