Die Geschichte des Schwäbischen Tagblatts

1969-2004: Respektlos, jedoch nicht zügellos

Die TAGBLATT-Lokalredaktion wird in der Ära Christoph Müller ein republikweit beachtetes Beispiel für engagierten Journalismus. Meinungsfreudig, unabhängig, vielfältig, jung wie nie zuvor und mit einem neuen Konzept von „Heimat“-Zeitung.

21.09.2020

Von Hans-Joachim Lang

Tägliche Redaktionskonferenz im Chefzimmer von Christoph Müller in den 1980er Jahren. Archivbild: Manfred Grohe

Tägliche Redaktionskonferenz im Chefzimmer von Christoph Müller in den 1980er Jahren. Archivbild: Manfred Grohe

Eine Lokalzeitung kann man auch abonnieren, nur um sich mit den Todesanzeigen auf dem Laufenden zu halten. Oder als Bettlektüre, wenn man nicht einschlafen kann. In Tübingen endete diese Zeit 1969, denn von da an rückte in den Mittelpunkt, was leibt und lebt in Stadt und Land. Mancher nahm das TAGBLATT nun eher als Aufwachlektüre, der Rhetoriker Walter Jens angeblich schon morgens um halb fünf. Andere auch deswegen, um auf die erwünschte Betriebstemperatur zu kommen. Nachdem Christoph Müller von seinem Vater den Chefposten übernommen hatte, erfand er zwar die Zeitung nicht neu. Das SCHWÄBISCHE TAGBLATT sehr wohl.

Allerdings setzte der Erfolg dieses bald republikweit beachteten Modells einer engagierten Lokalzeitung zwei mutige Verleger voraus, zum einen denselben Christoph Müller, der zum 1. April 1969 Chefredakteur geworden war, zum anderen Elisabeth Frate. Beide hatten ihre hälftigen Verlagsanteile von ihren Vätern geerbt, beide teilten sich ab 1970 auch die verlegerischen Aufgaben ähnlich wie dereinst Will Hanns Hebsacker und Ernst Müller. Und gewiss hatte der Erfolg seine weiteren Ursachen in den schreiberischen, fotografischen, handwerklichen, organisatorischen Beiträgen der gesamten Belegschaft. Sowie in dem beflügelnd kritischen Feedback einer wachsenden Leserschaft.

Außenkonferenz in Rottenburg: Martin Mayer schreibt den „DoGa“ (Donnerstagsgast) OB Winfried Löffler. Bild: Rainer Mozer

Außenkonferenz in Rottenburg: Martin Mayer schreibt den „DoGa“ (Donnerstagsgast) OB Winfried Löffler. Bild: Rainer Mozer

Die Jahre 1968 und 1969 bedeuteten einen großen Umbruch. Gesamtgesellschaftlich sowieso, Stichwort Studentenbewegung, aber auch verlagsgesellschaftlich. War bis dahin das TAGBLATT in der von der ersten überregionalen Politikseite über den Lokalteil bis hin zur letzten Anzeigenseite in der Uhlandstraße produziert worden, zog die technische und ökonomische Entwicklung Konsequenzen für die Zeitungsherstellung nach sich. Mit einer weiteren Aufstockung des Flachbaus an der Neckarseite Anfang der 1960er Jahre konnten zwar noch einige Platzprobleme behoben werden, doch nun standen tiefgreifende Eingriffe in die Verlagsstruktur bevor.

Die Verleger der „Südwest Presse“ (außer dem TAGBLATT noch neun weitere Verlage) beschlossen, ihre Gemeinschaft durch den Ulmer Zeitungsverlag zu erweitern. Sie verkauften an ihn die Hälfte ihrer Geschäftsanteile und sicherten sich gegenseitig zu, die einzelnen Zeitungsverlage unabhängig zu erhalten. Zudem beauftragten sie den Ulmer Zeitungsverlag mit der Herstellung der Mantelseiten. Fortan stand SÜDWEST PRESSE nicht nur im Gesellschafter-Vertrag, sondern auch auf der Titelseite.

„Jetzt oder nie!“

Damit war zum Jahreswechsel 1967/68 die Tübinger Zentralredaktion aufgelöst. Karl Lerch wechselte zum Süddeutschen Rundfunk nach Stuttgart, drei Monate später Lokalchef Alfred Leucht in den Ruhestand. Ernst Müller, exakt so alt wie das Jahrhundert, war am 1. Januar 68 Jahre alt geworden und machte sich Gedanken über die weitere Zukunft der Lokalzeitung. „Jetzt oder nie!“, stellte er seinen zweitältesten Sohn Christoph, der schon Zeitungsredakteur geworden war, vor die definitive Entscheidung.

Doch der lebte und arbeitete nicht in Tübingen, sondern seit sieben Jahren zunächst als Volontär, dann als Redakteur beim Berliner „Tagesspiegel“. In Berlin allein schon deswegen, um sich vom omnipräsenten Über-Vater auch räumlich abnabeln und sich selbst finden zu können. Hat er auch, aber nicht bis zur letzten Konsequenz. Schnellschreiber, der er immer war, verfasste er nebenher Feuilletons für die „Südwest Presse“, unter Pseudonym Reportagen für die „Stuttgarter Zeitung“, für den RIAS hatte er, der für den Ostteil der Stadt zuständige „Tagesspiegel“-Redakteur, dienstags eine eigene Radiosendung („Ost-Berlin am Morgen“). Redakteur war Müller jedoch nicht im Feuilleton, sondern im Lokalteil. Ohne Erfahrungen im Lokaljournalismus, hatte sein Vater als Bedingung mit auf den Weg gegeben, keine spätere Erbfolge in Tübingen.

Im Juni 1980 wurde die letzte Zeitung auf der alten Rotation in der Uhlandstraße gedruckt. Bild: Manfred Grohe

Im Juni 1980 wurde die letzte Zeitung auf der alten Rotation in der Uhlandstraße gedruckt. Bild: Manfred Grohe

Jetzt oder nie, hieß Ende 1968: Jetzt. In Tübingen war Paul Sting im März des Jahres Nachfolger Alfred Leuchts als Lokalchef geworden. 13 Monate später hieß er den Verleger-Sohn in einem TAGBLATT-Artikel willkommen: „Er wird – dessen sind wir Redakteure sicher – ein Gewinn sein für unsere Zeitung, für deren Leser und für die Redaktion. In diesem Sinne: Salute!“ Sting gab fortan wieder den Stellvertreter, angeblich ohne Bitterkeit, wie er 1981 bei seiner Pensionierung noch einmal beteuerte.

An Müllers erstem Arbeitstag begrüßten ihn zwei Redakteurinnen, sechs Redakteure, ein Foto-Journalist und ein Strick. Der Strick in einem Päckchen von einem anonymen Absender, dazu die Gebrauchsanweisung: „Häng Dich auf, Du schwule Sau!“ In diesem Sinne ein Salute in der Provinz, in der wenig von der Weltoffenheit zu spüren war, die in Berlin zum Alltag gehörte, wo Müller seinen Lebenspartner Axel Manthey kennengelernt hatte. Gegenwelten entstanden in der Universitätsstadt zunächst noch zaghaft, sogar ein Weltgeist war hier seit 1961 zu Hause. Aber der lebte in einer Sackgasse. Nach seinem Tod wurde sie großspurig nach ihm benannt: Ernst-Bloch-Straße.„Das Blatt war ziemlich rechts“, lautete die Diagnose des mit 31 Jahren zum Chef ernannten jüngsten Redaktionsmitglied. Der politische Kurswechsel der Lokalredaktion auf eine Linie, die Christoph Müller, ohne sich auf bestimmte Parteien festzulegen, als linksliberal ausgab, stieß in der Stadt und erst recht auf dem Land, nicht auf ungeteilte Gegenliebe. „Unsere kleine Stadt“ hatte er am 1. April 1969 sein Erstlingswerk betitelt, in dem er als künftige redaktionelle Leitlinie vorgab, immerzu so konkret wie möglich ins Tübinger Detail gehen zu wollen. Der Text stand links oben auf der ersten Lokalseite, drüber die Spaltenrubrik „Übrigens“.

Unter deutschen Dächern: Beobachtungen beim Schwäbischen Tagblatt
42:55 min
Im Sommer 1981 zeigte die ARD in der Reihe "Unter deutschen Dächern" einen Fernsehbeitrag mit Beobachtungen aus dem Redaktionsalltag beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen. Titel: Kolumnen, Krach und Kuhstallwärme. Video: Mit freundlicher Genehmigung von Radio Bremen
Es war zugleich die erste Neuerung, die nicht nur frische Töne anschlug, sondern fortan auch werktäglich und immer, mal glossierend und mal kommentierend, mit lokalem Bezug. Im Unterschied zum Berliner Vorbild (dort hieß es: „Am Rande bemerkt“), das dort der Chef täglich selbst verfasste, ruhte die Tübinger Neuschöpfung von Anfang an auf allen Redakteurs-Schultern. Was aber nichts daran änderte, dass Müller über die Jahre hinweg die meisten dieser Beiträge verfasste. Anfangs mit Füller und Tinte auf Konzeptpapier geschrieben und in die Setzerei gegeben, irgendwann mit zwei Zeigefingern auf Schreibmaschine getippt, schließlich (anfangs höchst ungern) mit dem Computer.

Eine weitere Neuerung betraf die Binnenkommunikation. Die sollte nicht mehr von oben nach unten gehen, sondern auf Augenhöhe in die Breite. Und wenn möglich auch in die Tiefe. Fortan gab es darum eine tägliche Redaktionskonferenz. Anfangs saß das allmählich größer werdende Team noch steif an einem langen Tisch, freie Mitarbeiter platzierten sich auf Klappstühlen in der zweiten Reihe. Ende der siebziger Jahre, als der Konferenzraum anderweitig gebraucht wurde, lockerte sich diese Anordnung, und die redaktionellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versammelten sich um die Mittagszeit im geräumigen Chefbüro zum Parlandissimo. Hier wurde eine halbe, bald eine ganze Stunde und mitunter noch länger gelobt und gezofft, kritisch auf das aktuelle Blatt geblickt und nach vorne geplant. Die großflächig die Wände dekorierenden Theaterplakate erschienen nicht ganz zufällig manchen der Beteiligten wie die Kulisse einer freien Bühne. Einträchtig ging man anschließend zum gemeinsamen Mittagessen, anfangs in der hauseigenen Kantine, später an Mittagstischen umliegender Restaurants.

Das neue Druckhaus (links) stand in der August Bebel-Straße. Bild: Manfred Grohe

Das neue Druckhaus (links) stand in der August Bebel-Straße. Bild: Manfred Grohe

Attraktiv wird eine Zeitung nicht nur durch ansprechende Texte, sondern auch durch eine auffallende Optik. Großformatige Fotos gehörten zum frühen Markenzeichen der neuen Ära. Von 1972 an erschien Samstag für Samstag eine Bilderseite, anfangs ausschließlich von Fotografenmeister Manfred Grohe gestaltet. Zuvor schon, ebenfalls samstags auf der Lokalen Eins, prangte ein Schmuckbild als Seitenaufmacher, darunter hatte ein altphilologisch geschulter Kollege ein paar passende Hexameter gedichtet.

Selbst damit ließ sich sogar Politik machen, zumindest falls es Absicht war, ausgerechnet am Samstag, 16. Oktober 1971, einen von hinten aufgenommenen Elefanten beim großen und kleinen Geschäft zu zeigen. Tags darauf beging Oberbürgermeister Hans Gmelin seinen 60. Geburtstag, was heutzutage kein Thema der Berichterstattung wäre. Damals aber nahm man übel, dass die Gratulation erst auf der dritten Seite kam. Ein Schelm, der böse darüber dachte, dass doch auf der ersten Seite … Genüsslich griff damals der „Stern“ nicht nur das Undenkbare auf, sondern auch noch weitere echte oder vermeintliche Unbotmäßigkeiten, die sogar den Tübinger Gemeinderat erregt und zu zweieinhalb Stunden öffentlicher Beratung veranlasst hatten. An deren Ende rügten 29 von 41 Stadträten – Vertreter der Unabhängigen Freien Wählergemeinschaft, der SPD und der CDU – das TAGBLATT, weil über „Mitbürger und Gemeinderäte bis an die Grenze des Abwertenden geurteilt wurde“.

Müller hielt dagegen und verschaffte sich wenigstens außerhalb des Rathauses Respekt: „Wir unterstützen die Minderheiten, von denen der Bürger nichts wissen will: alte Menschen, Studenten und Strafentlassene. Wir zeigen am Buß- und Bettag einen KZ-Friedhof. Wir schreiben, wie schamlos die Gastarbeiter ausgenutzt werden. Das ist unser Engagement. Das ist die Aufgabe eines innigen Heimatblattes.“ Bekannte Schlagwörter, aber in einem neuen politischen Kontext. Und damit war Müller auch programmatisch geworden, wiewohl er oft beteuerte, sein Programm sei sein Personal. „Mein Konzept besteht aus den von mir ausgesuchten Redakteurinnen und Redakteuren.“

Am 26. März 2004 startet die Rotation im neuen Druckzentrum Neckar-Alb in Betzingen mit allen beteiligten Verlegern durch Knopfdruck von Ministerpräsident Erwin Teufel. Bild: Rainer Mozer

Am 26. März 2004 startet die Rotation im neuen Druckzentrum Neckar-Alb in Betzingen mit allen beteiligten Verlegern durch Knopfdruck von Ministerpräsident Erwin Teufel. Bild: Rainer Mozer

Überlegungen zum Selbstverständnis gab es dennoch, oft auch gemeinsam in ganztägigen Sitzungen formuliert, zu denen sich die Redaktion gelegentlich statt eines Betriebsausflugs irgendwo außerhalb Tübingens zusammenfand. Zwei Wörter standen dabei stets im Zentrum: „Unabhängig“ und „Heimatzeitung“. Als „unabhängig“ definierte der Chef in einem solchen Grundsatzpapier, „dass eine Zeitung, die sich so bezeichnet, sich von niemandem außerhalb des eigenen Hauses vorschreiben lässt, was sie zu schreiben hat“. Was ja nicht das Wissen ausschließt, dass das Produkt seine Abnehmer finden soll.

„Heimatzeitung“ war bewusst gewählt und wollte die Zeitung mit einem anderen Begriff von Heimat verbinden als den, der bräunlich angefärbt noch in den sechziger Jahren virulent war. Nicht ganz zufällig etablierte sich das Ludwig-Uhland-Institut in jenen Jahren als Bezugsort der neuen Denkräume, denn dort waren Hermann Bausinger und Utz Jeggle mit Kollegen und Studierenden intensiv damit befasst, „Heimat“ neu zu interpretieren, zu vergegenwärtigen und zukunftsfähig zu machen. Was ganz prinzipiell einbezieht, das gesamte Spektrum einer pluralistischen Gesellschaft, soweit es greifbar ist, in den Blick zu nehmen.

In den Grundsätzen war man sich einig. Doch deren alltäglichen Anwendungen erhitzte die Köpfe, sowohl innerhalb der Redaktion als auch außerhalb. Demonstrativ signalisierte die lokale Monopolzeitung ihr pluralistisches Konzept durch eine nie zuvor dagewesene Vielfalt an Rubriken, in denen unterschiedliche Weltanschauungen artikuliert werden konnten: das pastorale Wort zum Sonntag, die wöchentliche Mittwochsspalte für die im Rathaus vertretenen Fraktionen, ein wöchentlicher Beitrag eines in den Land- beziehungsweise Bundestag gewählten Abgeordneten, Mitteilungen der Vereine sowie gelegentliche Themenseiten für Bürgerinitiativen.

Christoph Müller, vom Berliner „Tagesspiegel“ 1969 zum TAGBLATT nach Tübingen gewechselt. Archivbild: privat

Christoph Müller, vom Berliner „Tagesspiegel“ 1969 zum TAGBLATT nach Tübingen gewechselt. Archivbild: privat

Insofern bedurfte diese Definition von liberaler Grundhaltung in der Öffentlichkeit, zumal der universitätsstädtischen, keiner weiteren Rechtfertigung. Sehr wohl aber, was unter einer parteipolitisch ungebundenen links-liberalen Grundhaltung zu verstehen sei. Inwieweit dies überhaupt in der Leserschaft akzeptiert war, wieviel Identifikationsraum sie täglich vorfand, spiegelt sich einerseits in einer zunehmenden Zahl von Abonnenten und andererseits einer rekordverdächtig anwachsenden Zahl von abgedruckten Leserbrief-Kommentaren (unter der Rubrik „Sprachrohr des Bürgers“). Noch weit entfernt von der Meinungswut in heutigen Internetforen fanden Aktivbürger hier ein unzensiertes (wenn auch nicht unredigiertes) Forum. Das konnte schon einmal so weit gehen, dass Toleranzgrenzen im Meinungskampf landgerichtlich ermessen – und auch nächstinstanzlich im Sinne der Redaktionspraxis entschieden wurde. „Vielfalt der Meinungsäußerungen ist angestrebt, auch Widersprüchliches, sich Widersprechendes“, formulierte Christoph Müller im Frühjahr 1982 in einem Papier zum redaktionellen Selbstverständnis. „Zum diskreten Charme des TAGBLATTS gehört es, sich nicht für unfehlbar zu halten, also zu irren und lernfähig zu sein.“

Also nicht wie die Katholische Kirche, gegen die in Tübingen ein Hans Küng zu Felde zog, weil sie sich für unfehlbar hielt. Dass er dies tat, musste im TAGBLATT nahezu zwangsläufig Beifall finden. Aber wie er seinen Meinungskampf gelegentlich zelebrierte, reizte manchen Artikelschreiber zu Meinungsfarben, die Küng nicht für angemessen hielt. Jahre später verriet er, dass er bereits begonnen hatte, Gedanken zu sammeln für einen Artikel (Arbeitstitel: „Wider die Hämlinge“), dann aber Walter Jens ihm dies ausgeredet habe. Küng hat es, zumal nach dem Entzug seiner kirchlichen Lehrbefugnis, nie bereut, im Gegenteil: „Ich werde es Christoph Müller nie vergessen, dass er in einer Zeit, wo ich auf publizistische Hilfe dringend angewiesen war, weil ich von der offiziellen Gegenpropaganda einschließlich Hirtenbrief und Pressedokumentationen überrollt zu werden drohte, gerade vor Ort mit seiner Zeitung für dieselbe Sache stritt.“

Am Ende der Lehrzeit wurden Drucker „gegautscht“ (1987 am Georgsbrunnen). Archivbild: Manfred Grohe

Am Ende der Lehrzeit wurden Drucker „gegautscht“ (1987 am Georgsbrunnen). Archivbild: Manfred Grohe

Im Rottenburger Ordinariat hatte es wegen der Kirchenkritik schon Überlegungen gegeben, von der Kanzel herab zu einem Boykott der Zeitung aufzurufen. Neben der von dem früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Jürgen Todenhöfer kommunizierten Absicht, wegen der politischen Grundhaltung der Zeitung eine vereinte Abo-Abbestellung initiieren zu wollen, war es einer der massivsten Konflikte der Christoph-Müller-Ära. Erstickt wurden sie nicht, aber gelöst. Der Linie treu geblieben zu sein, musste nicht schädlich sein. Sogar Todenhöfer blieb nicht auf Dauer nachtragend, wie er – dem parteipolitischen Kampf fern – gut zwei Jahrzehnte später in einem Gespräch mit der Redaktion kundtat: „Wenn Sie mich auch bekämpft haben, Sie haben eine gute Zeitung gemacht.“

Dies auch, weil eine gute Zeitung mehr ausmacht als nur den politischen Meinungskampf. Auch das sonstige Leseangebot expandierte. Denn in Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität konnte es sich der Verlag leisten, und dazu war Einigkeit in der Verlagsspitze Voraussetzung, mehr Personal einzustellen. Wöchentlich ganzseitige Hintergründe aus dem Universitätsleben („Audimax“), lokale Wirtschaftsseiten, Jugendseiten („Szene Putzen“), lokalhistorische Seiten erschienen, Sommer-Comics und Sommerromane, dazu unzählige Serien über hiesige Dichterhäuser, Kulturdenkmale, Gastwirtschaften, Musiker, Gelehrte, Tüftler, Sammler, Altbürger und Neubürger.

 Metteur Otto Kohler beim Umbruch. Archivbild: Wolf-Dieter Nill

Metteur Otto Kohler beim Umbruch. Archivbild: Wolf-Dieter Nill

Weiterhin das ohnehin schon zu Ernst Müllers Zeiten üppige Kulturangebot, nun mit noch breiterem Spektrum. Kein Prominenter, gleich welcher Sparte, verließ die Stadt ohne ein „Wir sprachen mit“ dem TAGBLATT. Lokal interessierende Spezialprobleme beantworteten heimische Spezialisten unter „Zur Sache gefragt“. Spezialangebote für Kinder („Kinder-Uni“ und „Wolke 7“) und heimelige Sommerleseabende in und um Tübingen für die ganze Familie („TAGBLATT-Gutenachtgeschichte) und Diskussionsveranstaltungen nicht nur vor politischen Wahlentscheidungen. Und nicht zu vergessen ein TAGBLATT-Alleinstellungsmerkmal seit nunmehr 47 Jahren: Tausende von Zeichnungen des Hauskarikaturisten Sepp Buchegger.

Nie war die Redaktion so jung wie Anfang der 1980er, als die 24 Redaktionsmitglieder der in Tübingen, Rottenburg und Mössingen erscheinenden Ausgaben (nicht alle waren Vollzeitarbeitskräfte) im Durchschnitt 39 Jahre alt waren. Der jüngste Kollege war 24 und der älteste, Paul Sting, 65. In die Zeit seines Abschieds fiel ein weiterer Einschnitt. Merkbar daran, dass es kurz zuvor im Parterre des Verlagshauses stiller geworden war. Denn die Drucker der „Tübinger Chronik“ waren mit ihren Maschinen schon eine Weile in ihrem neuen Druckhaus in der August-Bebel-Straße eingezogen. In den alten Räumen hatte neue Technik Platz genommen. An die Stelle der Linotypes rückten Computer, für den Bleisatz kam nun der Lichtsatz. Nach außen sichtbar für die Leser war allein der Umstieg des TAGBLATTS vom „Berliner“ auf das größere „Rheinische Format“ mit sechs statt der gewohnten fünf Druckspalten. „Man wird kaum im Lande einen Lokalteil finden, der trotz Monopol mit solchen Aufwand und Eifer gemacht wird“, schrieben einmal die Kollegen der „Stuttgarter Zeitung“, und sie waren bei weitem nicht die einzigen, die voll Anerkennung auf die Zeitungsmacher in der Uhlandstraße schauten. So blieb es nicht aus, dass eines Tages ein Fernsehteam des WDR aufkreuzte. 2,74 Millionen Fernsehzuschauer sahen dann am 31. Juli 1981 eine dem TAGBLATT gewidmete 45-Minuten-Sendung der Serie „Unter deutschen Dächern“. Als Ergebnis ihrer vierwöchigen Drehzeit präsentierten die Fernsehleute nicht, wie ursprünglich geplant, den Alltag einer außergewöhnlichen Redaktion, sondern nutzten die außerordentliche Gelegenheit, den basisdemokratischen Streit um die offene Stelle des stellvertretenden Redaktionsleiters vorzuzeigen. Christoph Müller setzte sich damals über die Mehrheit hinweg, die ein internes Rotationsmodell favorisierte, und entschloss sich zu einer Lösung, mit der alle wieder ihren Frieden fanden: Zwei stellvertretende Chefredakteure wurden eingestellt.

Schriftsetzer Hans Bösl. Archivbild: Stefan Zibulla

Schriftsetzer Hans Bösl. Archivbild: Stefan Zibulla

In den anschließenden zehn Jahren stemmte der Verlag gewaltige Bauprojekte. Die Redaktionen der Rottenburger und der Mössinger Teilausgaben bezogen eigene Immobilien vor Ort, die neu eingerichtete Reutlinger Redaktion mietete sich in Büroräumen ein. Für einen Komplettumbau des Stammhauses musste die Belegschaft 1990 für zwei Jahre in die Karlstraße ausquartiert werden. Zugleich war die Gütertrennung zwischen Verlag und Druckerei beschlossen und notariell beurkundet worden. Der Architekt schuf und gestaltete im Verlagshaus nicht nur zusätzlichen Platz, sondern fügte auch die in verschiedenen Bauepochen errichteten Bauteile zu einem harmonischen Ganzen.

Nach dem Wiedereinzug wichen auf den Schreibtischen der Redaktionsmitglieder sukzessive die Schreibmaschinen den Computern. Und für die Leser änderte sich ein weiteres Mal das gewohnte Erscheinungsbild ihrer Zeitung. Es gab fortan keine drei verschiedene Teilausgaben mehr, sondern einen Lokalteil aus einem Guss. Und überm Mantelteil prangte wieder der altvertraute Titel „SCHWÄBISCHES TAGBLATT“, obwohl der Stoff des Mantels nach wie vor in der „Südwest Presse“ gewebt wird.

Ministerpräsident Lothar Späth (links) war 1987 Gast in der Redaktion. Rechts vorne Chefredakteur Christoph Müller. Archivbild: Ulrich Metz

Ministerpräsident Lothar Späth (links) war 1987 Gast in der Redaktion. Rechts vorne Chefredakteur Christoph Müller. Archivbild: Ulrich Metz

Kurz nach der Jahrtausendwende kam die Zeit für einen partiellen Generationenwechsel. Christoph Müller entschied mit 65, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Ein Jahr später, 2004, verkaufte er seine Anteile am Verlag. „Einen Koffer wenigstens wird er in Berlin lassen“, hatte Paul Sting am 29. März 1969 in seiner Begrüßung geschrieben. Die Ahnung hat sich bewahrheitet. Müller ist nach Berlin zurückgekehrt. Im Reisegepäck ein Brief, den der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth ein paar Jahre zuvor geschrieben hatte. „Der Tübinger Lokalteil hat’s echt in sich: Betont kritischer Journalismus, respektlos, jedoch nicht zügellos. Da sind Journalisten mit Spürsinn und Pfiff am Werk. Keine Abschreiber, sondern Leute, die eher übers Ziel hinausschießen, als den Lokal- oder Regionalgrößen zu großen Respekt zu erweisen.“ Und: „Macht weiter so, Ihr Tübinger! Euer Blatt hat Pfiff.“ Widrigenfalls werde das TAGBLATT doch noch ein Blatt unter vielen. „Und davor möge Euch der Himmel bewahren.“

Die Geschichte des Schwäbischen Tagblatts

1969-2004: Respektlos, jedoch nicht zügellos

1949-1969: „Strich drom dronter! Fertig isch!“

1945-1949: Zuversichtlich zur lichteren Zukunft

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Erstellt:
21.09.2020, 00:00 Uhr
Lesedauer: ca. 9min 56sec
zuletzt aktualisiert: 21.09.2020, 00:00 Uhr

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