Die Geschichte des Schwäbischen Tagblatts
1949-1969: „Strich drom dronter! Fertig isch!“
Die bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderjahre in der Uhlandstraße: Verlag und Druckerei investieren in bessere Maschinen, neue Räume im erweiterten Verlagsgebäude und zusätzliches Personal. Die politischen Gewichte verschieben sich, in der Universitätsstadt Tübingen wie in der TAGBLATT-Redaktion. Vergangenheitspolitisch werden die Uhren auf eine imaginäre Stunde Null gestellt.
Seit April 1950 waren Ernst Müller und Will Hanns Hebsacker die alleinigen Gesellschafter des TAGBLATTS, Müller mit der zusätzlichen Aufgabe des Chefredakteurs. Im Jahr davor hatten sich Altverleger aus dem bisherigen Verbreitungsgebiet des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS zu einer Verlegergemeinschaft zusammengeschlossen, die vom 12. August 1952 an unter dem Namen „Südwest Presse“ firmierte. Diese Altverleger aus dem Gebiet Südwürttemberg-Hohenzollern produzierten an ihren Verlagsstandorten eigene Lokalteile und übernahmen als „Mantel“ die Tübinger überregionalen Seiten.
Ebenfalls 1952, wenige Tage vor der Gründung des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg, erwarben die TAGBLATT-Gesellschaft und die „Chronik“-Druckerei die Verlagsimmobilie nebst Inventar von der Treuhandgesellschaft und verwalteten sie zu gleichen Teilen unter einer weiteren Gesellschaft, deren Geschäftsführer Hebsacker ebenso wurde wie bei der Verlegergemeinschaft. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, den Betrieb endlich von Grund auf zu modernisieren. Erst seit 1.Mai 1952 erschien das Blatt täglich. Wegen Papiermangels waren es anfangs nur zwei Ausgaben pro Woche, ab August 1948 drei, ab Dezember 1949 vier und ab April 1952 fünf Ausgaben.
Die gebraucht erworbene „Koebau“, ein Produkt der Würzburger Schnellpressenfabrik König & Bauer, konnte pro Stunde 12.000 Exemplare einer 32-seitigen Zeitung in einem Arbeitsgang drucken und erstmals sogar Farbe ins Blatt bringen. Derweil war im Altbau auf der gleichen Ebene die seitherige Rotationsmaschine für private Auftragsarbeiten stehen geblieben. Für Altmeister Wilhelm Kreß war es bereits die vierte seines langen Berufslebens. Zu Beginn seiner Lehre, das war im Kriegsjahr 1917, schaffte die Rotation der Brüder Weil in der Stunde 6000 Exemplare einer achtseitigen Zeitung.
Eine Etage darüber hatten unter anderen die Maschinensetzer ihr Revier, die an sieben übermannshohen Linotype-Setzmaschinen stündlich rund 40.000 Buchstaben in Form bringen konnten. Sie saßen wie an einer riesigen Schreibmaschine und tippten auf 90 Tasten. Damit bewegten sie jedoch keine Lettern, sondern lösten aus einem eigenen Magazin schmale Hartmessingplättchen, an deren Stirnseite Buchstaben und Satzzeichen eingraviert waren. Buchstabe für Buchstabe fielen diese Matrizen genannten Plättchen auf Tastendruck mit metallenem Klicken in den Sammler, bis eine Druckzeilenlänge komplett war.
Über die politische Ausrichtung des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS hatte es in den endvierziger Jahren immer wieder Klagen gegeben, insbesondere aus den Reihen der CDU. Längst verstand sich das Blatt nicht mehr, wie Hebsacker noch zum Einjährigen formuliert hatte, als eine sozialistische Tageszeitung ohne Parteipräferenzen. Zwar war keine CDU-Vertrauensperson in der Geschäftsleitung installiert worden, zeitweise war sogar der damals als Rechtsanwalt arbeitende (und spätere Bundeskanzler) Kurt Georg Kiesinger im Gespräch, aber man schwenkte spürbar auf einen „Kurs der Mitte“ (Hebsacker). Dafür standen der 1949 eingestellte Lokalchef Karl Lerch und Alfred Leucht, der 1955 diese Position übernahm, derweil Lerch als stellvertretender Chefredakteur des überregionalen Teils aufrückte.
Und in der Deutschen Gesandtschaft in Preßburg war er – was jedoch erst sechs Jahrzehnte später aufgrund von TAGBLATT-Recherchen öffentlich wurde – auch in die „Endlösung der Judenfrage“ in der Slowakei involviert. Doch schon das, was in Wahlveranstaltungen aufgerührt worden war, hatte manche Gemüter erhitzt. Erst recht, als Tage später der evangelische Theologie-Professor Gerhard Ebeling in einem Leserbrief die Wahlentscheidung als einen Beweis dafür bewertete, dass „für einen erheblichen Teil der Wähler solche Vergangenheit eine Empfehlung bedeutet“. Ebelings Folgerung: „Wir befinden uns in einem rapiden Gefälle der Renazifizierung.“
Eine bis dahin noch nie dagewesene und jahrzehntelang nicht wieder erreichte Flut von Leserreaktionen zeugte von dem enormen Druck in der Nachkriegsgesellschaft, in der sich viele verhielten, als hätten sie die Uhren im Jahr 1945 auf eine Stunde Null zurückstellen können. So wie auch Theodor Haering, der sich zu Gmelins Antritt fürs TAGBLATT seinen ernst gemeinten Reim machte:
„Strich drom dronter! Fertig isch!
Vorwärts! Schritt vor Schritt!
Gmelin, zeig jetz, was Du bisch!
Mir dean älle mit!“
Welcher Eindruck der Tübinger OB-Wahlkampf auf Müller und Hebsacker machte, ist nicht überliefert. Hebsacker hat nicht einmal mehr das Ergebnis erfahren. Der nach außen hin Genuss am Leben zelebrierende Tausendsassa des Unternehmens war kurz vor dem zweiten Wahldurchgang aus dem Leben geschieden. Am Grab sagte Ernst Müller: Sein Freund und Kollege, der ihn 1946 ans TAGBLATT geholt habe, sei ein Mann großer Unabhängigkeit gewesen und weltlichen wie geistigen Autoritäten stets frei gegenübergestanden. „Selbst seine tödliche, unheilbare Krankheit hat er seinem Freiheitssinn unterworfen.“ Er habe die Zeitung zu dem gemacht, was sie im öffentlichen Leben gelte, und bis zum letzten Gang aus der Redaktion die organisatorischen Fäden in Händen gehalten. Will Hanns Hebsacker hatte testamentarisch verfügt, dass seine Tochter Elisabeth mit 25 die Verlagsgeschäfte übernehmen sollte. Also erst 1970. Ihren Part in der Verlagsleitung vertrat einstweilen Alfred Sauter, der damit in die zentrale Geschäftsleitung aufstieg und zum zweitmächtigsten Mann im Haus wurde. Mit durchaus auch personalpolitischen Auswirkungen.
Alte Bekannte
In seinem 1992 publizierten „Rechenschaftsbericht eines Zeitungsredakteurs“ benannte der zum Jahresanfang 1955 als Lokalchef eingestellte Alfred Leucht, wem er seine Berufung verdankte. „Vor allem Verlagsleiter Alfred Sauter, ein alter Bekannter aus meiner Zeit bei der NS-Presse, machte sich dafür stark.“ Karl Lerch, der Dritte im Bunde mit Redakteurserfahrung aus der NS-Zeit, rückte von der Position des Lokalchefs in die des stellvertretenden Chefredakteurs im überregionalen Teil. Hauptsächlicher TAGBLATT-Bildberichter der 1950er Jahre war Alfred Göhner, einst hiesiger NSDAP-Kreispropagandaleiter, der schon 1938 nach Nürnberg gefahren war und hernach für die „Tübinger Chronik“ eine Bilderseite vom Reichsparteitag gestaltet und auch sonst die örtlichen Parteigrößen für die Heimatzeitung fotografisch in Szene gesetzt hatte.
In mehreren Artikeln wetterte er gegen die „Chronik“, weil sie „in ihrer Verlagsleitung an maßgeblicher Stelle einen Juden sitzen hat“, schrieb sich dann stolz zu, dass Albert Weils Sohn Hermann daraufhin aus der Geschäftsleitung entlassen und ihm die Prokura entzogen wurde und war damit aber noch immer nicht zufrieden. Denn nun legte er noch die dreiste Frage nach, wann der Verlag Höhn endlich „judenrein“ sei.
In seinen 1992 publizierten Memoiren („Journalistenjahre. Rechtfertigungsbericht eines Zeitungsredakteurs“) bekannte Leucht allgemein Schuldgefühle, doch ohne je konkret zu werden. Letztlich sah er, der daheim in seinem Arbeitszimmer bis zum letzten Kriegstag ein großes Hitler-Porträt hängen hatte, sich auch selbst in der Rolle des Opfers, denn: „Alles kam, wie es kommen mußte. Das Schicksal nahm erbarmungslos seinen Lauf.“ Damit nahm er sich selbst aus der Verantwortung, wiewohl er nicht nur als Lokalredakteur in Tübingen, Stuttgart, Metzingen und Reutlingen verbrachte, Judenverfolgung und Judendeportationen nicht übersehen haben konnte, sich auch noch zur Waffen-SS meldete und als „Kriegsberichter“ mit der SS-Standarte „Kurt Eggers“ gen Italien zog.
Genau so lasen sich die Tübinger TAGLATT-Seiten in den 1950er und den 1960er Jahren. Kein Wort über die NS-Verbrechen, die auch vor Ort stattgefunden hatten, kein Wort über die Schuldigen, kein Wort darüber, dass auch in Tübingen Juden gelebt hatten, die teils in die Emigration und teils in die Vernichtungslager getrieben worden waren.
Im Lokalteil dominierte auf dem Gebiet der Kommunalpolitik die Stadtentwicklung. Zahlreiche Neubürger suchten in Tübingen eine dauernde Bleibe, überwiegend Vertriebene – Deutsche aus osteuropäischen Ländern – und Ausgebombte aus deutschen Großstädten. Das schuf Probleme, die Lösungen vor allem beim Wohnungsbau und bei der Verkehrsplanung erforderten. Breiten Raum im Blatt nahm ein, was die Stadtverwaltung dazu wusste und was die Stadträte in den Gemeinderatssitzungen besprachen und schließlich beschlossen. Neue Wohnquartiere entstanden, insbesondere im Norden der Stadt, Straßen machten sich breit, Schulen mussten erweitert werden.
Eine zunehmend wichtige Rolle spielte dabei der durchsetzungsstarke Oberbürgermeister. „Bei meinen nicht nur sachlichen, sondern auch menschlichen engen Kontakten mit dem Rathaus – alle Ämter eingeschlossen – konnte es nicht ausbleiben, daß mir gelegentlich der Vorwurf der ,Hofberichterstattung‘ gemacht wurde“, merkte Leucht selbstkritisch an. Nähe ist ein grundsätzliches Problem des Journalismus, indes kommt es auch auf die Körperhaltung dabei an und auf die Kriterien der Informationsaufbereitung.
„Onsere Diebenger“
Wer in Leuchts „Journalistenjahren“ eine Rolle spielte, zumindest nach der omninösen „Stunde Null“, breitet er auf acht Buchseiten aus, vorneweg die Frauen, in alphabetischer Reihenfolge mit „Frau Birn“ beginnend, der „Gattin des früheren Regierungspräsidenten“, und nach der Parade noch eine Wolke Aftershave hinterher: „Zur Abrundung meiner Begegnungen mit Frauen sei am Rande bemerkt, daß sie Zeit meines Lebens vor allem menschlich eine nachhaltige und fruchtbare Wirkung ausgeübt haben.“
Den im Maschinensaal des TAGBLATTS sich allmählich steigernden Takt unterlegte die Lokalredaktion im Oberstübchen des Neubaus mit Klageliedern über die schnelllebigen Zeiten. „Der Takt des Motors gibt das Tempo an / Verlorene Idylle“, schrieb am 12. Februar 1953 im Dämmerlicht einer „guten alten Zeit“ ein Journalist über den Fluch der Maschine. Am Beispiel dörflicher Veränderungen betrauerte er eine angeblich dem Untergang nahen Idylle. Angeblich deswegen, weil es sie nie real, sondern nur als Bestandteil einer Ideologie gegeben hat, die in gar nicht so tiefen Bewusstseinsschichten immer noch virulent war. Anstelle eines „persönlichen Verhältnisses wie zwischen Mensch und Pferd“ trete eine „Arbeitsgemeinschaft von Mensch und Maschine“, bedauerte der ungenannte Autor, mit ungeahnten Folgen: „Hier geht ein Stück Verstand verloren.“ Und am Ende die rhetorische Frage: „Bringt die Maschine neben Fortschritt, Ersparung von Arbeitskräften usw. auch für das Gemüt, für die Wesensbildung des ländlichen Menschen nur Gutes?“
Als wäre nirgends nichts gewesen, hat Milli Stotz sogar, so die Überschrift, einen „Tübinger aus Afrika“ für diese Mammutserie heimgeholt, Leopold Hirsch. Wenigstens ein paar Druckzeilen lang. Pünktlich an dessen 75. Geburtstag, also irgendwie in Tübingen unvergessen, las man am 1. Dezember 1951, dass der ehemalige Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts, wenn er „1939 nicht ausgewandert wäre“, in der Kronenstraße für das 100. Geschäftsjubiläum rüsten könnte. Konnte die Schreiberin, die so genau informiert war, in den Wirren der Stunde Null vergessen haben, dass Hirsch, wäre er 1939 nicht „ausgewandert“, wie die in Tübingen verbliebenen Juden 1942 in Riga erschossen oder 1943 in Auschwitz vergast worden wäre?
An Lilli Zapf, der Erforscherin der jüdischen Geschichte Tübingens, schrieb Leopold Hirsch im Februar 1964: „Den Ersten Weltkrieg hab ich mitgemacht. (...) Trotzdem kam ich 1938 nach Dachau. (...) Als ich 1939 Tübingen verließ, war meine Firma 80 Jahre alt. Meine Frau und ich durften nur je 10 Mark mitnehmen, aber mein Sohn hat in Johannesburg für uns gesorgt. Südafrika ist ein schönes Land.“ Was sich Hirsch wohl dachte, falls er im TAGBLATT über sich als „Onser Diebenger“ gelesen hat? Dass seine Nachfolger im November 1988 ihr 50-jähriges Geschäftsbestehen feierten, hat er nicht mehr erleben müssen.
Georg Weil, ein anderer „ausgewanderter“ Jude und zuvor Eigentümer eines Tübinger Bankhauses, schrieb im Frühjahr 1971 an Lilli Zapf, dass er gerade Alfred Leuchts Buch „Tübinger Impressionen“ gelesen habe, und fügte hinzu: „Der Verfasser Leucht, mir unbekannt, schrieb mir eine nette, sehr gut gemeinte Widmung hinein. Wer ist wohl Hr. Leucht? Das Büchlein bringt alte wichtige Bürger und auch neue wichtige (...). Bei ein paar musste ich leider ein bisschen den Kopf schütteln. Juden, Ex-Bürger, wie z.B. Dr. Hayum, erstes Anwaltsbureau, lange Jahre Gemeinderat, (...) kommen sonnenklar nicht vor, ebenso wenig wie meine Eltern, deren großer Wohltätigkeit (...) die Stadt sowieso viel verdankt, sie haben nie gelebt.“
In der „Spiegel“-Affäre, die hinterher als ein Meilenstein im Kampf um Pressefreiheit in die Geschichtsbücher einging, hatte der rechtskonservative Lerch unter anderem behauptet, dass die staatlichen Reaktionen (genauer: Überreaktionen) gegen den „Spiegel“ die Pressefreiheit nicht berühre. „Dieser Journalist denkt autoritär, nicht demokratisch, er ist ein Gegner unseres Staates“, protestierten daraufhin acht Tübinger Professoren – darunter Hermann Bausinger, Ralf Dahrendorf, Walter Jens, Iring Fetscher und Walter Schulz – und ließen wissen, sie gäben „die Hoffnung auf, Ihre Kommentatoren möchten rechtsstaatliche Grundsätze kennen und verteidigen“.
Jetzt war auch Ernst Müller alarmiert, ließ er doch die Professoren-Klage dreispaltig in den hiesigen Lokalteil einrücken und fügte hinzu: Er fühle sich persönlich angesprochen, weil er die betreffenden Kommentare gebilligt habe und nicht aus eigener Feder Stellung genommen habe. Er freue sich, dass die Hochschullehrer „mit soviel Mut und Logik die andere Seite, die demokratische Seite, der ,Spiegel‘-Affäre beleuchten“. In dem Schreiben der Professoren sehe er „ein Stück notwendiger Diskussion und Korrektur“. War da Müller, Dienstherr von Lerch & Co, noch Herr im eigenen Haus? Zumal die Leitartikel-Leser der übrigen 19 Ausgaben der „Südwest-Presse“ die Professoren-Kritik nur aus dem „Spiegel“ erfahren konnten.
Die Geschichte des Schwäbischen Tagblatts
1969-2004: Respektlos, jedoch nicht zügellos