Die Geschichte des Schwäbischen Tagblatts

1945-1949: Zuversichtlich zur lichteren Zukunft

Die Wiege des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS stand im Tübinger Gasthaus „Pflug“. Hier diskutierten Mitglieder der Demokratischen Vereinigung über die Gründung einer neuen Tageszeitung und über die ersten Personalien. Doch am 21. September 1945, dem Tag der Erstausgabe, standen noch turbulente Jahre bevor. Und betreuter Journalismus unter französischer Besatzungshoheit.

21.09.2020

Von Hans-Joachim Lang

Blick über das zerstörte Uhlandhaus hinweg zur Neckargasse. Zerstörungswerk einer Luftmine am 15. März 1944. Archivbild: Kleinfeldt

Blick über das zerstörte Uhlandhaus hinweg zur Neckargasse. Zerstörungswerk einer Luftmine am 15. März 1944. Archivbild: Kleinfeldt

Eine „schwere, aber auch eine dankbare Aufgabe“ sahen die drei Lizenzträger einer neuen Tageszeitung vor sich, die am 21. September 1945 erstmals erschienen ist. Die Startauflage des zunächst für die Kreise Tübingen, Reutlingen, Horb, Hechingen, Balingen und Calw bestimmten Blatts betrug 50.000 Exemplare. Das lag zweieinhalbfach über der letzten Auflage der „Tübinger Chronik“, in deren Verlagsgebäude das SCHWÄBISCHE TAGBLATT von nun an geschrieben und gedruckt wurde. Den Namen hatte der französische Zensuroffizier Pierre Angel ausgesucht. Der 32-jährige Germanist hatte sein Büro in der Redaktion, nicht aus Kontrollwut, sondern aus Freude am Zeitungmachen. Er diskutierte mit, ließ andere Meinungen gelten und teilte mit der Redaktion ein Geheimnis: Unter Pseudonym schrieb er gelegentlich selber Leitartikel. „Für Zensuroffiziere war das natürlich verboten“, sagte er vier Jahrzehnte später in einem TAGBLATT-Interview. Als seine Vorgesetzten im April 1947 Wind davon bekamen, schickten sie ihn nach Freiburg.

Josef Forderer, 57, Will Hanns Hebsacker, 47, und Hermann Werner, 65, die drei Gründer dieser Zeitung, wollten voll Zuversicht zu einer „lichteren Zukunft“ beitragen, setzten auf politische Aufklärung und die Werte einer demokratischen Grundordnung. Alle drei hatten sie in der Weimarer Republik als Journalisten gearbeitet. Sie schätzten die bis dahin freieste deutsche Verfassung auch aus beruflicher Erfahrung und hielten ihren Leser vor Augen, warum sie gescheitert war.

Verlagshaus blieb intakt

„Vielen Deutschen ist das noch nicht klar geworden. Sie suchen die Schuldigen bei anderen, nur nicht bei sich selbst.“ Jetzt galt es, den Gründen nachzuspüren, immerhin in einem intakt gebliebenen Verlagshaus. Und das war, nach Darstellung der TAGBLATT-Gründer, die Ausgangslage: „Furchtbar ist das Erbe, das uns die Nazis hinterlassen haben: das Reich aufgelöst, unsere Städte vielfach lahmgelegt, das Wirtschaftsleben erstickt.“

Zuletzt waren die Einschläge immer näher gekommen. Genau 400 Tage lang hatten die Beschäftigten der „Tübinger Chronik“ das Ausmaß an Zerstörung vor Augen, das auch sie hätte treffen können. Britische Lancaster-Bomber waren über die Universitätsstadt geflogen, zum 102. Mal in diesem Krieg hatten die Tübinger Sirenen Fliegeralarm gegeben. Es war der 15. März 1944, kurz nach 21 Uhr, als eine gewaltige Detonation auf der dem Verlagsgebäude gegenüberliegenden Neckarseite zu hören und zu spüren war. Eine Luftmine hatte das Uhlandhaus komplett zerstört, vom benachbarten Germanenhaus und von den beiden Gebäuden an der Ecke der Neckargasse mit der damaligen Adolf-Hitler-Straße (Mühlstraße) standen nur noch Außenmauern. Mächtige Druckwellen hatten ringsum die Fenster bersten lassen. Aus ihrer Tageszeitung erfuhren die Tübinger darüber nichts.

Will Hanns Hebsacker. Bild: Alfred Göhner / Stadtarchiv Tübingen

Will Hanns Hebsacker. Bild: Alfred Göhner / Stadtarchiv Tübingen

Weitere Einschläge trafen die Stadt noch in den letzten Kriegstagen, bei den schwersten am 17. April, ebenfalls unweit des Verlagshauses, gab es 17 Tote. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn der von deutschen Soldaten angebrachte Sprengsatz wie fast alle anderen Neckarübergänge auch die Eberhardsbrücke in die Luft gejagt hätte! Ein letztes Mal erschien am 18. April die traditionsreiche und von den Nazis heruntergewirtschaftete „Tübinger Chronik“, gleichentags setzte sich Verlagsleiter Willy Spingler mit anderen Nazigrößen, darunter auch Oberbürgermeister Ernst Weinmann, in Richtung Allgäu ab.

Alle Beschäftigten waren nach Hause entlassen worden, Chefsekretärin Martha Merkh verschloss alle Büros und Lager, nahm die Schlüssel in Verwahrung und verließ mit Hauptbuchhalter Willi Jung als Letzte das Verlagsgebäude. Am 19. April, gegen 9 Uhr morgens, erreichten französische Panzer die Stadt, Widerstand gab es keinen. Weinmann hatte unmittelbar vor seiner Flucht die Amtsgeschäfte an den 70-jährigen Fritz Haußmann übertragen, ein gegen Kriegsende dienstverpflichteter höherer Beamter im Liegenschaftsamt. Der französische Stadtkommandant Etienne Metzger ernannte ihn am 18. Mai formell zum Oberbürgermeister.

Kunst der Improvisation

Im Gegensatz zu ihren Verbündeten, die für einen Umbau der nationalsozialistischen Medien bereits fertige Konzepte ausgearbeitet hatten, setzte die unvorbereitete Siegermacht Frankreich auf die Kunst der Improvisation. Aber auch sie begann, wo noch nicht geschehen, die Rotationen zu stoppen, dann über eigene Mitteilungsblätter die Bevölkerung zu informieren und schließlich deutsche Zeitungen und Zeitschriften aufzubauen. Deutsche durften nur nach schriftlicher Genehmigung der Militärregierung Druckwerke herausgeben, Lizenzträger und Journalisten mussten politisch unbelastet sein.

Hermann Werner. Bild: Alfred Göhner / Stadtarchiv Tübingen

Hermann Werner. Bild: Alfred Göhner / Stadtarchiv Tübingen

Aber waren die Verfehlungen nicht allzu gravierend, sahen die Franzosen bei qualifizierten Bewerbern auch schon mal großzügig darüber hinweg. Die Schuldfrage sei zu differenzieren, nicht alle könnten für alle Naziverbrechen haften, schrieb Ende Januar 1946 ein gewisser Paul Arnold in einem TAGBLATT-Leitartikel, der in Wirklichkeit Pierre Angel hieß. Das war ein bedenkenswerter Ansatz, zumal auch für jene, die in der Umkehrung alle Schuld bei Hitler entsorgten.

Bereits zwei Wochen nach der Besetzung Tübingens genehmigte die Militärverwaltung, dass die „Tübinger Chronik“ in städtischer Regie ein täglich erscheinendes Blatt mit französischen Anordnungen und städtischen Mitteilungen herausgeben durfte. Deren erste Nummer erschien am 23. Mai, allerdings nur zweimal die Woche, und weil NS-belastete Zeitungstitel inzwischen verboten waren, schlicht als „Mitteilungen der Militärregierung für den Kreis Tübingen“. Annoncen enthielt das Blatt anfangs nicht. Und da nicht einmal Kurznachrichten erlaubt waren, bedurfte es zunächst auch keiner redaktionellen Mitarbeiter.

Gruppe von Antifaschisten

Das heißt nicht, dass in dieser Zeit nicht auch in der Bürgerschaft über die Notwendigkeit einer demokratischen Zeitung diskutiert wurde. Wesentliche Impulse gingen von Mitgliedern der Demokratischen Vereinigung aus. Dabei handelte sich um einen lockeren Verbund von zwei, drei, bald fünf Dutzend Männern: Sozialdemokraten, unabhängige Sozialisten, Kommunisten, christlich orientierte Demokraten und Liberale.

Sie trafen sich von Ende April 1945 an regelmäßig in der Gaststätte „Pflug“, diskutierten lebhaft über die anstehenden Aufgaben und führten darüber Protokoll. In Zusammenarbeit mit dieser Gruppe von Antifaschisten besetzte die französische Stadtkommandantur die wichtigsten kommunalen Ämter. Dazu gehörte auch die „Chronik“-Druckerei. Die Franzosen beauftragten die Stadt, deren Verwaltung treuhänderisch zu übernehmen, und setzten den altgedienten Drucker und Gewerkschafter Paul Riehle als Geschäftsführer ein. Diesem Verfahren entsprechend, aber auch aus eigenen politischen Prinzipien, sah die Demokratische Vereinigung in der Gründung einer Tageszeitung ebenfalls eine basisorientierte kommunale Aufgabe. Anfang August 1945 lockerte die Stadtkommandantur ihre strikte Nachrichtensperre und erlaubte in den „Mitteilungen der Militärregierung für den Kreis Tübingen“ erste Artikel aus dem lokalen Umfeld, die auch von Journalisten verfasst werden durften. Zu den Schreibern gehörten unter anderen Josef Forderer, Will Hanns Hebsacker und Hermann Werner. Die Namen der beiden ersten liest man auch in den Protokollen der Demokratischen Vereinigung.

Josef Forderer. Bild: Alfred Göhner / Stadtarchiv Tübingen

Josef Forderer. Bild: Alfred Göhner / Stadtarchiv Tübingen

Zu den Tübingern, die nicht nur im „Pflug“ mit Nachdruck auf eine neue Tageszeitung hinarbeiteten, gehörten die beiden Sozialdemokraten Viktor Renner und Carlo Schmid. Renner und Schmid kannten sich vom Tübinger Landgericht, wo sie in früheren Jahren Richter waren. In den ersten Nachkriegswochen stand Renner immer wieder Haußmann zur Seite, den die neuen Aufgaben zunehmend überforderten, und wurde am 18. Juni 1945 dessen Nachfolger als Tübinger Oberbürgermeister.

Schmid, mit Vatersprache Deutsch und Muttersprache Französisch sowie ausgeprägtem Bildungshintergrund, wurde zunehmend der geschätzte Ansprechpartner der Franzosen, engagierte sich für die frühe Wiedereröffnung der Tübinger Universität und wurde im Oktober 1945 an die Spitze der provisorischen Regierung für das französisch besetzte Gebiet Württembergs und Hohenzollerns berufen.

Wo es darum ging, pragmatisch Kontakte zu knüpfen, hatten sie für das Zeitungsprojekt bald Hebsacker zur Seite, ein undogmatischer Kommunist, der nach dem Krieg keiner Partei mehr angehörte. Er war vor 1933 in Reutlingen Chefredakteur einer Fachzeitschrift der Werbebranche, wenige Wochen nach dem Machtantritt der Nazis wegen seiner politischen Einstellung fünf Monate im Konzentrationslager Heuberg interniert und hatte danach als Journalist Berufsverbot.

Sein ursprünglicher Plan, gleich nach Kriegsende einen Verlag in Stuttgart zu gründen, war wegen der französisch-amerikanischen Zonengrenze gescheitert, in der Demokratischen Vereinigung war er früh präsent.

Dort reagierte man höchst verblüfft auf die Mitteilung ihres Mitglieds Josef Forderer am 23. August 1945, dass demnächst eine „Tageszeitung großen Stils“ erscheinen werde. Mehr nicht. Auch nicht, wer genau dahinterstand. Oberbürgermeister Renner musste sich vorhalten lassen, dass er der Vereinigung dieses Vorhaben verschwiegen hatte. Indes stellte sich heraus, dass außer Forderer noch weitere Mitglieder involviert waren, etwa Will Hanns Hebsacker und Otto Bartels. Letzterer, vor 1933 in leitenden Verlagspositionen sozialdemokratisch orientierter Tageszeitungen, betonte lebhaft, wie sehr das Niveau einer Zeitung von der Qualität der Mitarbeiter abhänge. Auf Riehles demonstrativen Rücktritt wegen der Vorbereitungen hinter seinem Rücken ernannte Renner postwendend Bartels zum neuen „Chronik“-Geschäftsführer.

Von sechs TAGBLATT-Herausgebern im Sommer 1946 waren Ende jenes Jahres noch drei verblieben: Alfred Schwenger, Will Hanns Hebsacker, Ernst Müller (von links). Archivbild

Von sechs TAGBLATT-Herausgebern im Sommer 1946 waren Ende jenes Jahres noch drei verblieben: Alfred Schwenger, Will Hanns Hebsacker, Ernst Müller (von links). Archivbild

Groß war das politisch unbelastete Journalistenpotenzial nicht, auch wenn eine Reihe von Edelfedern aus ausgebombten Großstädten in Tübingen und Umgebung Zuflucht gefunden hatten. Vielleicht deswegen und weil man ihn in Tübingen kannte, war Josef Forderer von Viktor Renner schon im Frühsommer 1945 aus Tuttlingen nach Tübingen zurückgelockt worden. Als einstiger Redakteur der „Tübinger Chronik“ (Eigentümer war bis 1930 der jüdische Verleger Albert Weil) und einstiges Parteimitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei schien er ins Konzept zu passen. Die Verantwortung für die neue Zeitung sollte jedoch nicht ihm übertragen werden.

Anfang September sickerte durch, dass ein Paul Herzog, der erst seit kurzem in Tübingen lebte, von den Franzosen die Lizenz erhalten habe. Der frühere Leiter eines Berliner Pressebüros soll zwar von sich aus aktiv geworden sein, hatte jedoch schnell die passenden Kontakte und war mit einer Mitarbeiterliste und einem Memorandum auf die Militärverwaltung zugegangen. Dass auf dieser Liste Will Hanns Hebsacker, Paul Wilhelm Wenger und Josef Forderer standen, erfuhr die Demokratische Vereinigung noch nicht.

Herzog hatte auch schon Sophie Öhrlich als Stenotypistin eingestellt, eine spätere TAGBLATT-Chefsekretärin, und Elisabeth Kaiser als Volontärin. Kaiser wurde später Schriftstellerin und Mitarbeiterin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Nicht bekannt wurde auch, dass im Rathaus bereits ein Gesellschaftervertrag vorbereitet worden war für einen Zeitungsverlag, der ein „Württembergisches Tagblatt“ herausgeben wollte. Gleichberechtigte Geschäftsführer sollten Otto Bartels und Paul Herzog werden.

Herzog, einst der „Zentrum“-Partei nahe stehend (und späteres Gründungsmitglied der Tübinger CDU), verstand sich offenbar gut mit Bartels. Forderer mit Herzog jedoch nicht so sehr, zumal als ihm bekannt wurde, welche Machtfülle dieser in Grundsatzfragen haben wollte. Derweil sich der gerade ernannte Lizenzträger im „Chronik“-Verlagsgebäude schon einrichtete, intervenierte Forderer in Baden-Baden. Dort hatten die Franzosen im Spätsommer 1945 eine für ihre gesamte Besatzungszone zuständige Verwaltung eingerichtet. In deren Direction de l’information setzte Forderer seinen Hebel an.

Provisorische Regelung

Nach einem Gespräch mit Forderer beendete Colonel Camille Loutre, vor dem Krieg französischer Korrespondent in Berlin, am 18. September 1945 das Tübinger Gezeter und traf eine „provisorische Regelung“, die für die nächste Zeit zur verbindlichen Arbeitsgrundlage wurde. Provisorisch sollte diese Regelung bleiben wegen der „herrschenden unklaren Verhältnisse, hervorgerufen vor allen Dingen durch bestehende lokale finanzielle Abmachungen, sowie durch Versprechungen von unberufenen lokalen Instanzen“.

In den Redaktionsausschuss berief Loutre Josef Forderer als Chefredakteur, Will Hanns Hebsacker und Hermann Werner als Redakteure. Werner hatte als Redakteur im Feuilleton des „Schwäbischen Merkur“ geschrieben, nach dessen Verbot 1941 als Württemberg-Korrespondent für die „Frankfurter Zeitung“, die 1943 verboten wurde. Wichtig war Loutre, dass die im Rathaus geplante Verlags-GmbH „auf keinen Fall (…) irgendeinen politischen Einfluss über den Redaktionsausschuss und die Redaktion überhaupt ausüben“ dürfe. Das richtete sich indirekt auch gegen Herzog. Zum nächsten Treff der GmbH lud der Oberbürgermeister die drei Lizenzträger, „Chronik“-Geschäftsführer Bartels sowie, neue Personalie, Verlagskaufmann Gerhard Ludwig. Von Herzog sprach fortan niemand mehr.

Der SPD-nahe Ludwig – 1942 in Berlin aus politischen Gründen zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt und nach dem Krieg ausgezehrt zu seiner Frau nach Bebenhausen gekommen – verfügte über Verlagserfahrungen bei der „Frankfurter Zeitung“ und der Berliner „Köllnischen Zeitung“. Er löste Bartels, der im November 1945 städtischer Kulturamtsleiter wurde, als „Chronik“-Geschäftsführer ab. Ein Artikel des freien Mitarbeiters Alfred Schwenger im November 1945 über die Ernährungslage, der dem Zensuroffizier entgangen war, missfiel den Militärs. Daraufhin wurde der verantwortliche Redakteur Hermann Werner verhaftet, zwei Wochen interniert und danach entlassen.

Eine Hauptstadtzeitung

Tübingen war ab Oktober 1945 nicht nur Hauptstadt einer militärischen Zivilverwaltung geworden, sondern von der Kreisstadt auf dem Weg zur Hauptstadt eines Landes Württemberg-Hohenzollern. Zur Hauptstadt gehörte eine Hauptstadtzeitung. Ganz im Sinne sowohl anspruchsvoller Kulturoffiziere als auch des neu ernannten Regierungschefs Carlo Schmid, der ein Blatt wie die renommierte „Frankfurter Zeitung“ der Weimarer Jahre vor Augen hatte.

Anspruchsvollen Journalismus konnte das TAGBLATT nicht bieten. Das lag auch an den eingeschränkten Produktionsbedingungen, weshalb der politische Horizont zunächst kaum über die Zonengrenze hinausreichte. Dazu vereinzelte Berichte über Verbrechen der Nazis, Besinnliches und Erbauliches, ein bisschen Feuilleton, ein schmales Kaleidoskop von Meldungen, ein trivialer Fortsetzungsroman: mehr nicht.

Die täglichen Leitartikel kommentierten anfangs keine aktuelle Politik, was auch noch gar nicht erlaubt war, sondern waren eher brave Demokratie-Lektionen. Aber sie waren, wie die Franzosen in einer kleinen Umfrage herausfanden, der am wenigsten gelesene Teil der Zeitung. Weniger Volkshochschule hätte die Zeitung sein sollen, eine modernere Aufmachung hätte man sich außerdem gewünscht. Und mehr qualifizierte Mitarbeiter.

Die zwei Seiten des Verlagsgebäudes nach dem Krieg: Zum Neckar hin ...Bild: Alfred Göhner

Die zwei Seiten des Verlagsgebäudes nach dem Krieg: Zum Neckar hin ...Bild: Alfred Göhner

Die Kritik wurde in Baden-Baden ernst genommen. Immerhin schon am 19. November mahnte Colonel Loutre seinen untergeordneten Kollegen Oswald von der Tübinger Section Information: „Widmen Sie sich besonders dem Schwäbischen Tagblatt in Tübingen, indem Sie das Redaktionsteam vergrößern und die Mannschaft mit guten Journalisten verstärken.“ So wurde, besonderer Hoffnungsträger des Zensuroffiziers, gleich darauf der erst 32-jährige Werner Steinberg eingestellt. Der Kommunist aus Breslau war in Reutlingen gestrandet und Angel, französischer Kommunist, hatte ihn auf der Straße zufällig kennengelernt.

Er sollte speziell die Ohnemichels unter der Jugend ansprechen, gestaltete bald eine alle zwei Wochen erscheinende Jugendseite und gründete im folgenden Frühjahr die in allen vier Besatzungszonen vertriebene Jugendzeitschrift „Die Zukunft“. Und kurz nach Steinberg kamen noch Fritz Jäkel als Politikredakteur und Alfred Schwenger, der für Sport zuständig wurde. Warum ausgerechnet er, der zuvor doch den missbilligten Artikel verfasst hatte, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben.

... und zur Uhlandstraße hin. Bild: Alfred Göhner

... und zur Uhlandstraße hin. Bild: Alfred Göhner

Als nächstes wackelte der Stuhl des Chefredakteurs. Bei Carlo Schmid, mit dem er nicht über eine Verbesserung des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS reden wollte, fiel Forderer bald in Ungnade. Schmid sann nach Alternativen – und handelte. Jetzt kamen auch politisch belastende Einzelheiten aus Forderers Biografie zutage: ein übler antisemitischer Hetzartikel in den Albvereins-Blättern, und dass er von 1939 bis 1945 Redakteur bei der „Tuttlinger Zeitung“ war. Hatte Forderer nicht Wochen zuvor noch dazu angehalten, Schuld nicht immer nur bei den anderen zu suchen?

Seine Berichterstattung über den Nürnberger Prozess gegen die NS-Kriegsverbrecher übernahm Will Hanns Hebsacker, derweil sich Schmid direkt an die Militärverwaltung wandte: Ein Wechsel in der TAGBLATT-Chefredaktion sei „unbedingt erforderlich, einmal, um die notwendige Qualität der Zeitung zu gewährleisten, zum anderen, um solche Elemente zu entfernen, die als Überbleibsel aus der NS-Zeit die demokratisch repräsentative Mission der Zeitung beeinträchtigen würden.“

Hebsacker fuhr mit Angel nach Lindau, um als Nachfolger für Hermann Werner den geschätzten Feuilletonisten Erich Schairer anzuwerben. Der sagte zu und konnte seinen Dienst gleich als Chefredakteur antreten, weil Forderer in dieser Position nicht mehr zu halten war. Presseoffizier Loutre in Baden-Baden blieb keine andere Alternative, obwohl er wie auch Angel mit Forderer im Grunde zufrieden waren. Im Gegenzug kegelte Loutre die von Schmid im Stillen vorbereiteten Pläne einer Alternativ-Redaktion, der aus der Stamm-Mannschaft nur Hebsacker und Schairer angehören sollten, ins Aus.

Bis an den Bodensee

Wegen Papiermangels konnte das vom Herbst 1945 an bis an den Bodensee verbreitete Blatt weiterhin nur zweimal pro Woche erscheinen, die Auflage hatte im November 1945 die 100.000er Marke überschritten, kletterte zum Jahresende auf 120.000 und erreichte im Sommer 1946 den Höchststand von 200.000 Exemplaren. An mehreren Standorten erschienen lokale Wechselseiten, als weiteren Redakteur vermittelte Hebsacker einen alten Bekannten aus seiner Studienzeit: Ernst Müller, der in Stuttgarter Feuilletons geschrieben hatte, bis er bei den Nazis als Journalist Berufsverbot hatte.

Loutre ernannte zum 1. Juli ein sechsköpfiges Herausgebergremium, das nach außen Überparteilichkeit signalisieren sollte. Will Hanns Hebsacker, die den Sozialdemokraten nahestehenden Erich Schairer und Ernst Müller, der Kommunist Werner Steinberg, der christdemokratisch orientierte Alfred Schwenger und die neu in die Redaktion eingetretene Rosemarie Schittenhelm, die kurzerhand der DVP zugeordnet wurde.

Sitzung des Nürnberger Militärtribunals während des Verhörs von Hermann Göring am 18. März 1946. Auf einem Presseplatz (mit Kreis markiert) Will Hanns Hebsacker, Redakteur und Mitherausgeber des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS. Archivbild

Sitzung des Nürnberger Militärtribunals während des Verhörs von Hermann Göring am 18. März 1946. Auf einem Presseplatz (mit Kreis markiert) Will Hanns Hebsacker, Redakteur und Mitherausgeber des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS. Archivbild

Da der Verlag noch immer keine Rechtsform hatte, sollte diese Personengruppe Anteile zu je 10.000 Reichsmark zeichnen und Gesellschafter einer Verlags-GmbH werden. Wegen der ungeklärten Besitzverhältnisse an Druckerei und Verlagsgebäude zogen sich die Verhandlungen hin, Schairer übernahm Verantwortung in der „Stuttgarter Zeitung“, Steinberg und Schittenhelm widmeten sich von Reutlingen aus der „Zukunft“, die inzwischen 100.000 Auflage hatte. Blieben nur noch drei Gesellschafter der neuen Verlags-GmbH: Hebsacker, Müller und Schwenger.

Allerdings residierten unter der gleichen Adresse noch zwei weitere Unternehmen. Die Beschäftigten der Druckerei hatten das Angebot der Franzosen genutzt und unter dem Namen „Tübinger Chronik“ am 5. November 1947 eine Druckerei- und Verlagsgenossenschaft gegründet. Doch weder den einen noch den anderen gehörte die Immobilie und ihr Inventar. Darum wurden sie auf Anordnung der Militärregierung vom 28. August 1947 an von der Württembergischen Verwaltungs- und Treuhandgesellschaft ebenfalls unter dem Namen „Tübinger Chronik“ zwangsverwaltet – unter der Geschäftsführung von Will Hanns Hebsacker, der auch schon kurze Zeit das städtische Presse-, Kultur- und Verkehrsamt geleitet hatte und Vorstandsmitglied sowohl des südwürttembergischen Journalistenverbandes und des Vereins deutscher Zeitungsverleger der französischen Zone war.

Die Geschichte des Schwäbischen Tagblatts

1969-2004: Respektlos, jedoch nicht zügellos

1949-1969: „Strich drom dronter! Fertig isch!“

1945-1949: Zuversichtlich zur lichteren Zukunft

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Erstellt:
21.09.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 9min 49sec
zuletzt aktualisiert: 21.09.2020, 01:00 Uhr

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