Impfen

„Wir gehen alle auf dem Zahnfleisch“

Telefongebimmel, dreiste Patienten, Überstunden: Der Ansturm in Arztpraxen im Land bringt medizinische Fachangestellte ans Limit. Wertschätzung spüren sie wenig.

28.05.2021

Von MIRIAM PLAPPERT

Den ganzen Tag Vollgas: die medizinischen Fachangestellten Svenja Kloss (vorne) und Sandra Graf-Chouliaras. Foto: Lars Schwerdtfeger

Den ganzen Tag Vollgas: die medizinischen Fachangestellten Svenja Kloss (vorne) und Sandra Graf-Chouliaras. Foto: Lars Schwerdtfeger

Ulm/Stuttgart. Kurz nach 8 Uhr – Patientensprechstunde: Beide Praxistelefone klingeln in den ersten Minuten. Die medizinische Fachangestellte (MFA) Sandra Graf-Chouliaras (49) nimmt den Hörer ab. „Einen Termin können wir jetzt nicht ausmachen, aber wir können Sie auf die Warteliste setzen.“ Die Anruferin lässt nicht locker, weshalb die MFA ein „ja, aber Urlaub ist keine Indikation“, nachschiebt. Es folgt ein langer Piepton. Die Anruferin hat aufgelegt.

Solche Telefonate führen Graf-Chouliaras und ihre Kolleginnen zigmal am Tag. Unzählige Männer und Frauen rufen in der Praxis des Allgemeinarztes Dr. Jochen Förstner in Ulm an, weil sie einen Covid-19-Impftermin ausmachen wollen.

Ein Ordner mit Daten der Patienten, die auf der Warteliste für den Impfstoff stehen, liegt hinter der Empfangstheke. In welcher Reihenfolge geimpft wird, entscheidet der Arzt.

Das Telefon klingelt wieder. Diesmal nimmt Svenja Kloss (49), ebenfalls eine MFA, den Hörer ab. Es ist die gleiche Anruferin. „Wir machen das nach Schwere der Erkrankung und nach Alter. Urlaub tut da nichts zur Sache“, erklärt Kloss.

Diesmal will sich die Anruferin auf die Warteliste schreiben lassen. Wie sich herausstellt, ist sie aber gar keine Patientin der Praxis.

„Man fragt sich, wie die Patienten sich das vorstellen“, sagt Kloss. Der Impfstoff ist nach wie vor knapp, jede Hausarztpraxis bekommt nur wenige Dosen pro Woche zugeteilt. Nur weil die Impfpriorisierung bei den Hausärzten aufgehoben ist, können nicht alle Patienten gleich geimpft werden. Viele wollen das nicht verstehen. Graf-Chouliaras: Am Telefon wird es dann schon auch mal lauter.

Das Telefon klingelt. Es ist nochmal dieselbe Anruferin. Diesmal wird Kloss ungehalten. Sie bittet die Frau, die in der kommenden Woche in den Urlaub fahren und sich vorher impfen lassen will, nicht noch einmal anzurufen.

„Am Morgen, wenn wir zu dritt sind, kann man über solche Vorfälle noch lachen“, sagt Graf-Chouliaras. „Aber wenn das ein paar Stunden so geht, geht das wirklich an die Substanz.“

Neben der Impf-Organisation geht der normale Praxisbetrieb weiter. Patienten kommen in die Sprechstunde, wollen Rezepte abholen oder haben medizinische Notfälle. Die Telefone klingeln fast ununterbrochen. Dazu gesellt sich der Dreiklang der Türklingel.

Die Tage fangen morgens um 7?Uhr mit den Covid-Impfungen an, dann folgen die reguläre Sprechstunde und die Corona-Sprechstunde. In der Mittagspause gibt Förstner weitere Impfungen, macht Hausbesuche und kümmert sich um Palliativpatienten. Nachmittags ist wieder Sprechstunde.

Verwaltungssachen wie Rechnungen oder Genesenen-Pässe bleiben liegen und müssen nach der regulären Arbeitszeit erledigt werden. „Wir machen Überstunden. Das geht auch gar nicht anders“, sagt Graf-Chouliaras. Die bekommen sie von ihrem Chef bezahlt, was nicht in allen Praxen selbstverständlich sei.

Seit die Hausärzte impfen dürfen, geht es drunter und drüber. „Ich habe so etwas in 25 Jahren Arzthelferin-Dasein nicht erlebt“, sagt Kloss. Stress pur findet auch ihre Kollegin Ina Unterberg (45). „Ich bin oft geladen, wenn ich heimkomme.“

Förstner weiß um die Belastung seiner Angestellten. „Wir sind froh, dass wir Menschen haben, die das mittragen und aushalten“, sagt er. Die Aufhebung der Impfpriorisierung hält er medizinisch nicht für sinnvoll. Die Personen, die besonders schützenswert sind, etwa Tumorpatienten, will er weiter primär bedienen.

In allen Hausarztpraxen im Südwesten zeigt sich die gleiche angespannte Situation. So hat Jutta Napiwotzky, die seit 33 Jahren als MFA in einer Gemeinschaftsarztpraxis in Mühlacker bei Pforzheim arbeitet, in der Praxis bis zu 298 Anrufe und 220 Impfungen am Tag gezählt. Im April habe sie 87 Überstunden gemacht. Weil das Pandemiejahr 2020 so arbeitsintensiv war, habe sie noch 10 Wochen Urlaub, die sie bisher nicht nehmen konnte.

Die Anerkennung dafür, dass ein Großteil der Corona-Patienten in Hausarztpraxen behandelt wurde, fehlt ihr, sagt Napiwotzky. Eine Coronaprämie vom Staat gab es nicht.

Als großes Problem sieht sie auch den Personalmangel. „Der Markt bei medizinischen Fachangestellten ist praktisch leergefegt.“ Sie selbst gehe im Herbst in den vorgezogenen Ruhestand. „Ich mache das nicht mehr mit. Wir gehen alle auf dem Zahnfleisch.“

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Erstellt:
28.05.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 01sec
zuletzt aktualisiert: 28.05.2021, 06:00 Uhr

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