Von Protest und Protestantismus

Lesung Bei der TAGBLATT-Gutenachtgeschichte in Ofterdingen ging es nicht nur um Literatur, sondern auch um Politik.

04.09.2019

Von Susanne Mutschler

„Wir wollten authentisch sein“: Dorothee Esche liest bei der TAGBLATT-Gutenachtgeschichte auf dem Ofterdinger Kirchplatz.Bild: Erich Sommer

„Wir wollten authentisch sein“: Dorothee Esche liest bei der TAGBLATT-Gutenachtgeschichte auf dem Ofterdinger Kirchplatz.Bild: Erich Sommer

Noch die letzten Stühle mussten aus der Ofterdinger Bücherei auf den Kirchplatz getragen werden, so viele Besucher interessierten sich am Montagabend dafür, was Albrecht und Dorothee Esche bei der TAGBLATT-Gutenachtgeschichte vorlesen würden. Albrecht Esche war von 1983 bis 1994 Pfarrer in Ofterdingen, seine Frau Dorothee unterrichtete bis 2009 an der Burghofschule. Die Eheleute, die inzwischen in Öschingen leben, sind als aktive Ruheständler im ganzen Steinlachtal bekannt.

Dorothee Esche ist „ein Motor des Widerstandes gegen Stuttgart 21“, erklärte TAGBLATT-Mitarbeiter Jürgen Jonas, der den Abend auf dem Kirchplatz in Ofterdingen moderierte. Sie sei bei allen Montagsdemonstrationen in Stuttgart dabei. Über die von ihr geführte „Aktionsgruppe Mössingen/Steinlachtal für K21“ halte sie das Steinlachtal auf dem Laufenden. Albrecht Esche stellte er als Theologen und Literaturwissenschaftler vor. Wenn er zu seinen Vorträgen oder Gedichtrezitationen einlädt, strömen die Leute in Scharen.

„Wir wollten authentisch sein“, sagte Albrecht Esche. Darum hätten seine Frau und er Texte ausgewählt, die mit ihren Lebensauffassungen und politischen Überzeugungen übereinstimmen. Das 2015 erschienene Buch „Ungehört. Ungeklärt. Ungesühnt“ über den Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten, aus dem Dorothee Esche vorlas, ist ein Bericht über den späteren Prozess am Verwaltungsgericht. Der Stuttgarter Journalist Jürgen Bartle und der pensionierte Richter Dieter Reicherter, der zufällig selbst Augenzeuge der Polizeigewalt gegen die Demonstranten geworden war, zeichneten akribisch auf, was sie während der Verhandlungstage beobachteten. Esche, die sich an ihr eigenes Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an die Staatsmacht erinnerte, brachte politische Nachdenklichkeit in den lauschigen Leseabend rund um den roten Ledersessel. Wer weiß, ob sie ihre Zuhörer nicht zu der einen oder anderen Diskussion anregte? Sie las von der Befangenheit eines Schöffen, wie die Fahrer der Wasserwerfer ihre Gegner einkesselten und „wie bei der Moorhuhnjagd“ als lebende Ziele hetzten und von den durch die Wasserstrahlen schwer an ihren Augen Verletzten, für die eine Erstversorgung improvisiert werden musste. „Eine irreale Situation wie in einem Kriegsgebiet“, sagte sie. Das Verwaltungsgericht befand 2015 zwar, die Maßnahmen seien nicht rechtmäßig gewesen, aber keiner der zehn Polizisten an den Wasserwerfern gestand je, absichtsvoll gezielt zu haben. Esches stille Empörung darüber, dass das Urteil für die Verantwortlichen ohne Konsequenzen blieb, war bis in die hinterste Stuhlreihe wahrnehmbar.

Mit den weltlichen und geistlichen Liebesliedern, die der Ofterdinger Gospelchor Friends unter der Leitung von Anton Roggenstein und mit der Solistin Annalena Speidel hören ließ, kehrte gefühlvolle Zuversicht auf den Kirchplatz zurück.

Um Hoffnung und emotionale Stabilität geht es auch in dem autobiographischen Rückblick, den Elke Heidenreich, geboren 1943, für den Band „Pfarrerskinder“ (1982 herausgegeben von Martin Greiffenhagen) verfasste. Albrecht Esche las, wie die spätere „Literaturvermittlerin“ als „unendlich schwieriger Teenager“ in einem Pfarrhaus in Bonn als Pflegekind aufgenommen wird. Niemand sonst hätte die aufsässige 15-Jährige gewollt. Die Strukturiertheit des häuslichen Lebens, die sie dort erlebte, und die Toleranz ihrer Pflegeeltern, die sie akzeptierten, seien „der Drehpunkt in ihrem Leben gewesen“. Das Pfarrhaus mit seinen zwölf Zimmern – eines davon bewohnte Elke Heidenreich - sei trotz der Betriebsamkeit durch die viele temporären Gäste für sie „eine Oase der Ruhe“ gewesen und „ein Ort der Nächstenliebe“ viel mehr als einer der Frömmigkeit, schreibt die Autorin. Schwierig sei es damals nur geworden, wenn sie ihren Mitschülern glaubhaft machen wollte, dass sie trotz ihrer Unterbringung nicht fromm sein und ständig in die Kirche rennen musste. Oder wie Albrecht Esche abschließend aus einen Gedicht zitierte, das Reiner Kunze 1968 über ein Pfarrhaus in der DDR geschrieben hatte: „Wer da bedrängt ist, findet Mauern, ein Dach und muss nicht beten.“

Von Protest und Protestantismus

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Erstellt:
04.09.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 53sec
zuletzt aktualisiert: 04.09.2019, 01:00 Uhr

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