KI-Entwicklung
Amazon-Standort Tübingen: Kretschmann eröffnet Neubau
Ministerpräsident Winfried Kretschmann kam zur Eröffnung des vierten deutschen Forschungsstandortes des Online-Händlers.
Im November 2019 war es noch turbulent zugegangen. OB Palmer erinnerte an die „Amazon No“-Aufkleber überall in der Stadt und die Gemeinderatsentscheidung über den Verkauf eines Grundstücks für die Ansiedlung von Amazon, bei der mehrere Protestierende von der Polizei weggeführt wurden. Themen waren damals unter anderem die Arbeitsbedingungen bei dem Online-Händler und virtuellen Marktplatz.
Amazon zeigt sich offen für Gespräche
Gut drei Jahre später zeigte sich Amazon bei der Eröffnung seines vierten deutschen Forschungsstandortes demonstrativ gesprächsbereit und offen für die Stadtgesellschaft. Dabei spielt das für alle Besucherinnen und Besucher stets zugängliche große Foyer im Erdgeschoss keine unbedeutende Rolle (siehe Info-Box).
Wobei die öffentlich zugänglichen Flächen, vor allem auch das künftige Café, zugleich eine Funktion als Treffpunkt für andere Forscherinnen und Wissenschaftler im Technologiepark haben sollen, so Soehlke. „Solche Orte gibt’s dort oben nicht allzu viele.“ Schon gar nicht ohne Konsumzwang – „im Foyer kann man auch seine mitgebrachten Butterbrote essen“.
Amazon startete bereits 2017 mit einem kleinen Team in Tübingen, die Professoren Bernhard Schölkopf und Michael Black vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme waren seinerzeit Türöffner für den Weltkonzern. Am Dienstag waren sie dabei, als der Ministerpräsident symbolisch ein Band im Eingangsbereich durchschnitt – und sich danach durch das Gebäude führen ließ, inklusive virtuelle Schuhanprobe per Handy. Die künstliche Intelligenz dazu stammt von Amazon Tübingen – und dürfte stationäre Bekleidungs- und Schuhhändler nicht unbedingt erfreuen. „Jede neue Technologie bedeutet auch Verantwortung“, sagte Kretschmann, betonte aber zugleich, wie wichtig es für den Südwesten ist, beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) im Weltmaßstab mitzuhalten. „Wer nicht mitkocht, steht zuletzt auf der Speisekarte.“ Und dies nicht nur im Hinblick auf China, so Kretschmann, der sich nach dem Rundgang „schwer beeindruckt“ zeigte: „Das Cyber Valley wird nochmal attraktiver für die besten Köpfe aus aller Welt.“
Die mittlerweile 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Platz ist im Gebäude sogar für 200 – können ihren Blick vom Arbeitsplatz, den Pausen- oder Besprechungsräumen aus über den Albtrauf wandern lassen. Auf dem Dach erzeugt eine Solaranlage Strom zwischen Bäumen und Sträuchern, an Tischen können Forscher über KI-Probleme diskutieren oder einfach zu Mittag essen.
30 Millionen Euro hat das Gebäude gekostet, das „in bester Nachbarschaft zum Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, den Universitäten Tübingen und Stuttgart, zu Industriepartnern von Weltrang und einer vielversprechenden Start-up-Szene ist“, so der Ministerpräsident. Die Amazon-Ansiedlung sei bedeutsam für den Technologiestandort Tübingen, assistierte Palmer, die Stadt gehöre in Deutschland „zu den Top 10 bei der Erforschung der künstlichen Intelligenz“. Der Oberbürgermeister, der zugleich Finanzbürgermeister ist, zeigte sich auch „positiv beeindruckt, wie viel Gewerbesteuer da kommt“.
Geforscht wird in Tübingen auf verschiedenen Feldern der Künstlichen Intelligenz. Neben virtuellen Kleider- und Schuhanproben ist dies etwa die intelligente Bildkompression „Made in Tübingen“, die zu schnelleren Ladezeiten beim Shoppen auf Amazons Online-Marktplatz führt.
Forschung am fairen Algorithmus
Aber nicht nur direkt in Euro und Dollar umsetzbare Anwendungen werden entwickelt. Es geht auch um Grundlagenforschung, so Amazon-Mitarbeiter Yasser Jadidi. „Würden Sie mir einen Kredit geben?“, fragte er in Richtung von Ministerpräsident Kretschmann – um zu verdeutlichen, dass nicht nur Menschen, sondern auch Algorithmen oft nicht vorurteilsfrei entscheiden. Amazon wolle das ändern, bastele gerade an einer fairen Anwendung, unabhängig etwa von Geschlecht oder Herkunft: „Algorithmen sollen integer werden.“
Eigentlich sei es ja ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Weltkonzern wie Amazon seinen Blick in Richtung der 92000-Einwohner-Stadt am Neckar richte, sagte schließlich Palmer: „Tübingen ist letztlich nur ein Wohnblock in New York.“ Doch nach dem Besuch von Elon Musk (Tesla, SpaceX) und dem finanziellen Engagement von Microsoft-Gründer Bill Gates bei Curevac sei nun auch der drittreichste Mensch der Welt Jeff Bezos (Amazon) mit einer Dependance in Tübingen vertreten.
Foyer ist für alle offen
Laut Tübingens OB Boris Palmer wurde im Grundbuch festgeschrieben, dass „der Eingangsbereich im Erdgeschoss und das Café öffentlich sind. Jeder Tübinger hat ein Begehungsrecht bei Amazon.“ Baubürgermeister Cord Soehlke hatte die Verhandlungen mit Amazon geführt. Der Tübinger Standortleiter Michael Hirsch sei sehr aufgeschlossen gewesen. Von 8 bis 20 Uhr seien die öffentlich zugänglichen Teile des Erdgeschosses für alle Besucherinnen und Besucher offen, so Hirsch: „Jeder kann hier rein- und rausgehen, wie’s ihm beliebt.“ Wenn auch nicht in die abgesperrten Arbeitsbereiche. Auch das Wort „Veranstaltungsfläche“ fiel am Dienstag. Teil davon ist ein untervermietetes Café, das bis zum Sommer eröffnen soll. Das sei auch zur „Entdämonisierung“ des vielkritisierten Konzerns gedacht, so Palmer. „Wir wollen das Gespräch mit der Stadtgesellschaft suchen“, betonte Hirsch.