Tübingen · Kommentar
Amazon: Ein Café, die Gewerbesteuer und der Weltkonzern
Volker Rekittke über einen umstrittenen Weltkonzern.
Gleich am Mittwochmorgen nach dem großen Eröffnungsrummel mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann wollten wir’s wissen – und tatsächlich: Die Dame am Empfangstisch schaut nur kurz auf, als der unbekannte Besucher ihr zunickt und wie selbstverständlich in Richtung der großen Fensterfront mit Blick auf die Schwäbische Alb zusteuert, sich an einem der Tische niederlässt – wenn auch ohne ein Butterbrot zu verspeisen. Wäre aber möglich gewesen.
Nach der großen „Amazon No“-Kampagne vor dreieinhalb Jahren samt turbulenter Ratssitzung ist dieser „Public Space“ auf Amazon-Grund als eine Art Friedensangebot zu verstehen, für Palmer auch ein Beitrag zur „Entdämonisierung“ des vielkritisierten Konzerns. Motto: Schaut einfach mal vorbei, alles transparent hier.
Am Tübinger Forschungsstandort, dem vierten in Deutschland, geht es nicht ausschließlich um für alle offene Grundlagenforschung, etwa um „Fairness im maschinellen Lernen“, bei der Algorithmen beigebracht werden soll, die Kundschaft nicht aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder Alter zu bevorzugen oder zu diskriminieren. Denn auch wenn die Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme eng ist (zu eng, wie manche finden): Es ist keine öffentliche Universität, die Amazon in Tübingen finanziert. Am Ende müssen Anwendungen her, die Umsatz und Gewinn steigern helfen – etwa die intelligente Bildkompression „Made in Tübingen“, die zu schnelleren Ladezeiten beim Shoppen auf Amazons Online-Marktplatz führt.
Auf der anderen Seite sähen Universität, Max-Planck-Institute sowie Industrie- und Handelskammer einen Nutzen in der Ansiedlung. Die KI sei in der Konkurrenz zu China und den USA wichtig für den Wirtschaftsstandort Deutschland, so Palmer. Es geht dabei auch um den Wettbewerb um die besten Forscher-Köpfe weltweit.
Nicht ganz unbedeutend ist aus städtischer Sicht die Frage der Gewerbesteuer. Bei der Eröffnung am Dienstag hatte OB Palmer gesagt, er sei „positiv beeindruckt, wie viel Gewerbesteuer da kommt“. Denn egal, ob Forschungs- oder Logistikzentrum: Maßgeblich sei der in Deutschland erwirtschaftete „Gewinn im Sinne der Gewerbesteuer“, so Palmer am Mittwoch auf TAGBLATT-Nachfrage. Die Gewerbesteuer werde nach der Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am jeweiligen Standort auf die Städte verteilt. Bislang sind es in Tübingen 70, Platz hat Amazon für weitere 130 Beschäftigte. In Deutschland arbeiten nach eigenen Angaben mehr als 30.000 Menschen für Amazon.
Bleibt die Frage: Braucht man künftig überhaupt noch so viel Büro- und Besprechungsraum für Forschende? Bosch hat sich erst unlängst von seinem Tübinger Campus zur KI-Forschung verabschiedet. Baubürgermeister Soehlke indes ist überzeugt, dass nicht nur virtuelle, sondern auch reale Räume für Unternehmen wichtig sind. Weil auch die besten Köpfe der Welt sich gerne ganz in echt mit Kollegen treffen, ein Butterbrot oder einen Kaffee in angenehmer Atmosphäre genießen wollen.