Corona

Teure Hoffnungsträger

Lehrer, Eltern und Schüler wünschen sich Luftfilter in Klassenzimmern. Die Träger aber fürchten hohe Kosten und bezweifeln die Umsetzbarkeit.

28.06.2021

Von AXEL HABERMEHL

Sind Luftfilter in Klassenzimmern im Kampf gegen Corona ein Allheilmittel? Darüber wird diskutiert. Foto: Hauke-Christian Dittrich

Sind Luftfilter in Klassenzimmern im Kampf gegen Corona ein Allheilmittel? Darüber wird diskutiert. Foto: Hauke-Christian Dittrich

Stuttgart. Dass sich alle Lehrerverbände, Elternbeiräte und Schülervertreter einig sind, kommt selten vor. Eigentlich nie. Doch beim Thema Luftfilter für Schulen ist genau das der Fall: All diese Organisationen und diverse Politiker fordern die Ausstattung von Klassenzimmern mit solchen Geräten. An Luftfiltern hängen beinahe Erlösungshoffnungen. In Schulen, wo viele ungeimpfte junge Menschen lange und eng beisammen sind, erwarten sich Befürworter einen sichereren Betrieb.

Beobachter fühlen sich an vergangenes Jahr erinnert. Schon damals stand die Forderung im Raum. So erklärte etwa Grünen-Bundeschefin und nun Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock im Herbst 2020: „Um Schulen sicher offenhalten zu können, braucht es ein Sofortprogramm zur Beschaffung von mobilen Luftfiltern für Klassenräume.“ Nun, angesichts der sich ausbreitenden „Delta-Variante“ und Befürchtungen, im Herbst erneut Wechselunterricht an Schulen zu erleben, erhält das Thema neue Nahrung. Doch erfüllt wird der Wunsch wohl nicht, jedenfalls nicht überall.

Kretschmann bremst

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) formulierte es so: „Das mit diesen ganzen Lüftungsanlagen wird nicht so richtig in Gang kommen, aus verschiedenen Gründen, von der Lärmbelastung bis zu den Umbaumaßnahmen. Was auch immer da erfolgt, es ist nicht das Ei des Kolumbus.“ Eine Bemerkung, die auch deshalb Stirnrunzeln hervorrief, da für Kretschmanns Staatsministerium Luftfilter angeschafft wurden, ebenso wie für Räume der Regierungsfraktionen Grüne und CDU.

Zuständig für Sachausstattung von Schulen sind deren Träger: Städte, Kommunen, Landkreise. Sie fürchten hohe Kosten, bezweifeln eine schnelle Umsetzbarkeit und verweisen auf die Finanzkraft von Bund und Land. Doch die Landesregierung hat sich gerade auf einen Nachtragshaushalt geeinigt – ohne Millionen für Luftfilter. Auch ein Bundes-Förderprogramm dürfte nicht für massenhafte Anschaffung sorgen.

In der Debatte gerät häufig durcheinander, dass es um zwei verschiedene technische Möglichkeiten geht. Vereinfacht ausgedrückt gibt es zwei Optionen: mobile Raumluftgeräte und fest installierte raumlufttechnische Anlagen (RLT-Anlagen). Beide können die Ansteckungsgefahr durch Aerosole, winzige virenhaltige Teilchen in der Luft, mindern. Doch darüber hinaus gibt es große Unterschiede.

Mobile Geräte sind, kalkulieren die Schulträger im Land, mit rund 3000 bis 4000 Euro pro Stück billiger als fest eingebaute. Angesichts von landesweit etwa 67?000 Klassenräumen würde eine flächendeckende Beschaffung trotzdem mehr als 200 Millionen Euro kosten. Der Nutzen der Geräte, die regelmäßiges Lüften nicht ersetzen, ist je nach Modell und Raum verschieden. Zudem gilt es zu bedenken, dass sie Geräusche verursachen und ihre Filter gewechselt werden müssen.

Pilotprojekt in Stuttgart

In einer Stellungnahme von Wissenschaftlern des „Expertenkreis Aerosole“ für die Landesregierung heißt es, mobile Filter könnten die bestehenden AHA+L-Regeln nicht ersetzen. Jedoch: „Die Geräte können – bei Einhaltung der bestehenden AHA+L-Regeln – durch die Minderung der globalen Partikelkonzentration im Raum einen weiteren, zusätzlichen, wirkungsvollen Baustein in einem Gesamtkonzept zur Risikominderung darstellen – insbesondere in Zeiten, in denen Räume wechselnd belegt und/oder schlecht oder nicht gelüftet werden können.“

Einer der beteiligten Wissenschaftler der Uni Stuttgart hat für die Stadt Stuttgart ein Pilotprojekt zum Einsatz mobiler Geräte an Schulen durchgeführt. Der Abschlussbericht steht noch aus, doch Zwischenergebnisse führen aus Sicht der Stadt zur Erkenntnis: „Diese Geräte sind nicht das Allheilmittel, um das Infektionsrisiko in Schulen zu senken“, wie ein Stadtsprecher mitteilt. „Eine pauschale Beschaffung von mobilen Luftreinigungsgeräten ist nicht angemessen, ein flächendeckender Einsatz erscheint nicht sinnvoll.“ Mobile Geräte könnten „lediglich eine Übergangslösung“ sein, den Nutzen müsse man für jeden Klassenraum prüfen.

Als „nachhaltige Lösung“ zur mittelfristigen Umsetzung empfehle die Uni den Einbau fest installierter RLT-Anlagen mit Wärmerückgewinnung. Deren Vorteil: Das Lüften über Fenster würde sich, zumindest teilweise, erübrigen, da die Geräte Frischluft zuführen. Zudem hätten sie auch nach der Pandemie großen Nutzen, da sie nicht nur die Luftqualität verbessern, sondern auch eine bessere Energie- und damit Klimabilanz haben als häufiges Lüften geheizter Schulräume.

Doch Kauf und Einbau der Anlagen kosteten 10?000 bis 15?000 Euro pro Raum, sagt Norbert Brugger, Bildungsexperte des Städtetags. Bei allen Klassenräumen im Land ginge die Gesamtsumme in Richtung einer Milliarde Euro. Auch angesichts des kleinen Zeitfensters Sommerferien und mangelnder Verfügbarkeit von Handwerkern strebten die Städte nun eine Grundsatzentscheidung auf Landes- oder besser Bundesebene an, ob RLT-Anlagen künftig Standard werden sollen. Falls ja, müssten Bund oder Land die Kosten tragen. Eines aber stehe fest: „Es ist völlig unrealistisch, in den Sommerferien flächendeckend raumlufttechnische Anlagen einzubauen.“

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Erstellt:
28.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 12sec
zuletzt aktualisiert: 28.06.2021, 06:00 Uhr

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