Tübingen

Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen gegen Landrat und Jugendamt ein

Nach dem Urteil im Pflegetöchter-Missbrauchsfall ermittelte die Tübinger Staatsanwaltschaft gegen Landrat Joachim Walter, die ehemalige Sozialdezernentin sowie Personen aus dem Tübinger Jugendamt. Diese Ermittlungen wurden nun eingestellt.

20.05.2022

Von job/itz

Symbolbild: Hugo Berties - fotolia.com

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Der Fall erregte auch über die Region hinaus im vergangenen Jahr Aufsehen: Ein Mann aus dem Steinlachtal hatte zwei Mädchen sexuelle Gewalt angetan, die ihm das Jugendamt als Pflegetöchter anvertraut hatte. Schon im Prozess wurde Kritik an der Arbeit der Behörde laut. Denn nachdem eine Pflegetochter dem Jugendamt von den Übergriffen berichtet hatte, konfrontierten Mitarbeiterinnen den Mann mit den Vorwürfen – noch vor einer Anzeige bei der Polizei.

Später stellte die Kriminalpolizei fest, dass kinderpornografische Bilder und Videos von elektronischen Geräten des Mannes gelöscht worden waren. Außerdem hielt die als Zeugin vernommene Psychologin Heidrun Overberg dem Amt im Prozess vor, bereits vor den Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs auf schwerwiegende Probleme in der Pflegefamilie hingewiesen zu haben. Daraufhin habe die Behörde zu wenig unternommen.

Das Landgericht verurteilte den Pflegevater wegen sexuellen Missbrauchs und Besitzes von Kinderpornografie zu fünfeinhalb Jahren Haft. In seiner Urteilsverkündung kritisierte der Vorsitzende Richter damals „gravierende Fehler“ des Jugendamts. Nachdem die Revision des Angeklaten vor dem Bundesgerichtshof erfolglos blieb, ist das Urteil nun rechtskräftig. Die Pflegemutter wurde später zu einer Geldstrafe verurteilt. Sie gestand, im Prozess gegen ihren Mann als Zeugin gelogen zu haben.

Das Landgericht verurteilte den Pflegevater wegen sexuellen Missbrauchs und Besitzes von Kinderpornografie zu fünfeinhalb Jahren Haft. Die Pflegemutter wurde später zu einer Geldstrafe verurteilt. Sie gestand, im Prozess gegen ihren Mann als Zeugin gelogen zu haben.

Nach Strafanzeigen gegen den damaligen Jugendamtsleiter Bernd Hillebrand, die ehemalige Sozialdezernentin Ulrike Dimmler-Trumpp und Landrat Joachim Walter unter anderem wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen, versuchter Strafvereitelung und unterlassener Hilfeleistung begann die Tübinger Staatsanwaltschaft mit weiteren Ermittlungen. Diese weitete sie zunächst auf weitere Mitarbeiter des Jugendamtes aus und ließ sich die kompletten Akten des Falls kommen.

Keine Strafbarkeit festgestellt

Nun sind alle Ermittlungen eingestellt worden: „Nach einer umfassenden rechtlichen Prüfung liegt eine Strafbarkeit der Mitarbeiter des Jugendamtes und der ehemaligen Sozialdezernentin des Landkreises nicht vor“, so das Ergebnis der Untersuchung.

Zwar hatte der Pflegevater nachweislich Dateien gelöscht. Es ließ sich aber nicht feststellen, ob das vor oder nach dem Zeitpunkt geschah, als ihn das Jugendamt mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs konfrontierte. Die Staatsanwaltschaft durchforstete außerdem aufwändig und gründlich Aktenvermerke und E-Mails und befragte die Leute des Jugendamts, um herauszufinden, ob sie mit einer möglichen Vernichtung von Beweismaterial rechneten.

Dafür gab es keinerlei Hinweise: Die damals noch Beschuldigten hätten bei der Prüfung der Kindeswohlgefährdung eines weiteren bei der Pflegefamilie wohnenden Pflegekindes eine mögliche Vernichtung von Beweismitteln „nicht erkannt und bedacht“. Einen Vorsatz, den Mann in irgendeiner Weise zu schützen, gab es nie. Auch habe es keinerlei Hinweise auf sexuellen Missbrauch gegeben, bevor sich die eine Pflegetochter dem Jugendamt offenbarte. Das Jugendamt sei anderen Problemen in der Pflegefamilie, von denen es wusste, durchaus nachgegangen. Was die ältere Pflegetochter anging, kam es dabei auch zu Gerichtsverfahren. Deshalb sei die Anzeige gegen Dimmler-Trump wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen gegenstandslos.

Die Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gegen den damaligen Jugendamtsleiter komme nicht in Betracht, so die Tübinger Staatsanwaltschaft: Der Paragraf zielt auf Menschen, die bei Unfällen oder Naturkatastrophen Verletzte im Stich lassen, und sei hier gar nicht anwendbar.

Eine weitere Strafanzeige der Psychologin Overberg gegen den Tübinger Landrat Joachim Walter wegen Beleidigung, Verleumdung, übler Nachrede und Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen wurde ebenfalls eingestellt. „Strafbare Äußerungen des Landrats lagen nicht vor, da sie entweder der Wahrheit entsprachen oder als sachbezogene Aussagen nicht geeignet waren, die Anzeigeerstatterin verächtlich zu machen“, stellt die Staatsanwaltschaft fest. Äußerungen über die Arbeit Overbergs als Gutachterin sieht sie von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt.

Auch die Rechtsaufsicht prüfte

Das Sozialministerium hatte die verspätete Anzeige gegen den Pflegevater kritisiert und das Regierungspräsidium beauftragt, die Arbeit des Jugendamtes in dem Fall auf juristische Fehler zu prüfen. Dabei stellte die Aufsichtsbehörde „keine durchgreifenden Rechtsfehler“ fest.

 



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„Dankbar, dass sich der Blick nach vorne richten kann“

Das Tübinger Landratsamt übermittelte auf Nachfrage am Freitag folgendes Statement von Landrat Joachim Walter zur Einstellung der Ermittlungen: „Nun haben Rechtsaufsichtsbehörde und Strafverfolgungsbehörde nach eingehender Prüfung festgestellt, dass keine Anhaltspunkte für eine Strafbarkeit der betreffenden Personen vorliegen. Es ist gut, dass mit der Einstellung der Ermittlungsverfahren nun Klarheit herrscht. Haltlose Vorwürfe wurden durch die Anzeigenerstatterin mehrfach öffentlich erhoben, was die Arbeit des Jugendamts zusätzlich belastet hat. Wir sind dankbar, dass sich der Blick nun nach vorne richten kann. Dies ist für die Bewältigung der großen Herausforderungen, mit der alle Jugendämter mehr denn je konfrontiert sind, von zentraler Bedeutung.“

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Erstellt:
20.05.2022, 09:24 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 21sec
zuletzt aktualisiert: 20.05.2022, 09:24 Uhr

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