Interview

Krankheit Demenz: Soziale Isolation macht krank

„Wertschätzung ist ein Lebenselexier“. Für alle Menschen. Auch für jene, die an Demenz erkrankt sind. Das betont der Pflegewissenschaftler Thomas Klie. Doch nicht nur sie wird diesen Kranken oft versagt.

08.09.2021

Von ELISABETH ZOLL

Der Gerontologe Thomas Klie. Foto: EH Freiburg/Marc Doradzillo

Der Gerontologe Thomas Klie. Foto: EH Freiburg/Marc Doradzillo

Stuttgart. Herr Professor Klie, Sie machen sich stark für ein gutes Leben mit Demenz. Was bedeutet das?

Thomas Klie: Um Bedingungen guten Lebens geht es mir. Und darum, dass auch Menschen mit Demenz das leben können, was zum Wesen des Menschseins gehört: Wertschätzung, Bedeutung für andere, Sicherheit, Freude, Lachen, Bewegung, Zugang zur Natur. Wir dürfen Menschen mit Demenz nicht auf Pflege reduzieren. Was sie nicht brauchen sind Demütigungen. Davon haben sie schon genug.

Viele von uns können sich gar nicht vorstellen, dass Menschen mit Demenz glücklich sein können.

Keiner kann dauerhaft glücklich sein. Doch es gibt immer wieder Momente des Glücks. Und diese können auch für Menschen mit Demenz entstehen. Diese Erfahrung machen viele, das bestätigt die Forschung.

Und doch wird kein Leben als so wenig lebenswert empfunden wie das Leben mit dieser Erkrankung. Woher kommt diese Einschätzung?

Für einen modernen Menschen bedroht Demenz all das, was ihn ausmacht: Leistungsfähigkeit, Erfolg, Autonomie. Diese Krankheit ist eine Kränkung des Selbst. Kant hat die Bestimmung der Menschenwürde auf den falschen Weg gebracht, indem sie für ihn (nur) in der reinen, durch keinen Affekt beeinflussten Vernunft gegeben war. Das greift anthropologisch zu kurz: Subjekt der Würde ist jeder Mensch. Würde wird erlebbar, geschieht im sozialen Miteinander – als Würdigung.

Müssen Menschen mit Demenz dann vor allem die Angst Noch-Nicht-Dementer fürchten?

Ein Leben mit Demenz ist eine Lebensform – heilen können wir sie nicht. Wenn aber gesellschaftlich vermittelt wird: das ist kein Leben mehr, dann fällt es schwer, Ja zu einem Leben mit Demenz zu sagen. Wir alle brauchen die Wertschätzung der Gesellschaft als Lebenselexir – auch Menschen mit Demenz.

In der Pandemie wurde in Kliniken über die Priorisierung von Behandlungen nachgedacht. Was bedeutete das für Menschen mit Demenz?

Nicht nur unter Pandemiebedingungen werden Kliniken Menschen mit Demenz oft nicht gerecht. Sie passen nicht zusammen: auf Effizienz und rationalisierte Abläufe ausgerichtete Krankenhäuser und Menschen mit Demenz in ihren inneren Welten. Die häufige Folge: Zwang und Freiheitsentzug. Das galt für viele demenziell erkrankte Heimbewohnerinnen. Um Quarantäne durchzusetzen, wurden sie vielerorts sediert und fixiert. Das hat ihnen geschadet, manche starben an den Folgen der Isolation. Es ist erwiesen: Isolation macht krank. Der virologische Imperativ hat partiell Menschenrechte außer Kraft gesetzt. Zum Glück haben manche Heime kreativ dagegen gehalten. Doch die Bereitschaft zur Ausgrenzung ist groß.

Das Bundesverfassungsgericht stärkte im Februar das Recht auf assistierten Suizid. Wird das gefährlich für Menschen mit Demenz?

Zuerst: Es gibt keine Pflicht zum Leben mit Demenz. Für manche ist die Vorstellung unerträglich. Darum gibt es auch so hohe Zustimmung zum Angebot der Suizidassistenz. Es kommt darauf an, Bildern entgegenzutreten, die assoziieren: das ist kein Leben mehr, Du bist uns eine Last. Das nimmt jede Zuversicht und befördert die Gefahr, dass Menschen mit einer Demenzdiagnose sich einem sozialen Erwartungsdruck ausgesetzt sehen, auf Behandlungen zu verzichten oder dem Leben ein Ende zu setzen – oder schwer depressiv werden.

Die Gefahr ist nicht abstrakt. In den Niederlanden stehen Menschen mit Demenz massiv unter Druck.

Das ist richtig. Druck entsteht vor allem in der Phase der Diagnose, wenn die persönliche Irritation am größten ist. Wenn dann gesagt wird, du musst das nicht aushalten, kann das „verführerisch“ werden und gefährlich. Aus den Niederlanden liegen Zahlen vor, dass Menschen mit mittlerer oder schwerer Demenz euthanisiert werden – auf Basis ihres mutmaßlichen Willens. In Deutschland ist das zum Glück (rechtlich) nicht möglich.

In Deutschland sind 1,6 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. 2050 werden es etwa drei Millionen sein. Schon jetzt fehlen Fachkräfte. Was muss sich ändern, damit diese Aufgabe bewältigt werden kann?

Der Personalmangel zwingt uns zu schauen: Für welche Aufgaben brauchen wir etwa in Heimen Fachpflegekräfte, wofür andere Professionelle und Assistenzkräfte? Doch dürfen wir uns – wie es die Politik weitgehend tut – nicht allein auf die Heime konzentrieren. Die meiste Pflege findet in Familien statt. Dafür braucht es lokale Netzwerke aus Nachbarn, Vereinen, Angehörigen . . . Gut wäre, schon ganz junge Menschen einzubinden. Kinder müssen erfahren, dass Menschen mit Demenz keine Aliens sind, sondern Gegenüber, mit dem man in eine lebendige Beziehung treten kann.

Thomas Klie ist Gerontologe und Rechtswissenschaftler. Er lehrt an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Eben ist sein Buch „Recht auf Demenz“ im Hirzel-Verlag erschienen.

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Erstellt:
08.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 15sec
zuletzt aktualisiert: 08.09.2021, 06:00 Uhr

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