Demenz

Irritation bis ins Mark

Immer mehr Menschen trifft diese Erkrankung. Doch professionelle Hilfe schwindet. Entlasten könnten Netzwerke in Kommunen. Wenn man sie denn hat.

08.09.2021

Von ELISABETH ZOLL

Ein Schilderbaum vor dem Rathaus in Walldorf weist in die Irre. Foto: Stadt Wallheim

Ein Schilderbaum vor dem Rathaus in Walldorf weist in die Irre. Foto: Stadt Wallheim

Stuttgart. Die Pfeile führen in die Irre. „Zentrum“ steht darauf geschrieben. Doch die Spitzen weisen nach Nord und Süd, Ost und West. „Informationstohuwabou“ könnte die Skulptur heißen, die drei Wochen lang auf dem Vorplatz des Rathauses in Walldorf (Rhein-Neckar-Kreis) gestanden hat. Oder einfach „Chaos: Demenz“. Auch die Zeitanzeige einer Uhr löst fragende Blicke aus. Wann ist 235?

Menschen mit Demenz kennen Irritationen. Zahlen, Worte, Schilder verlieren mit der Erkrankung an Aussagekraft. Verinnerlichte Ordnungen lösen sich auf. Zurück bleiben Verunsicherung und Angst. Bei den Betroffenen, aber auch bei Angehörigen.

Andrea Münch, Sozialberaterin in Walldorf, sitzt oft Menschen gegenüber, die unter Tränen von ihrem Leben mit einem dementen Angehörigen berichten, die für Vater oder Mutter sorgen wollen und doch an den nervenaufreibenden Begleiterscheinungen der Krankheit zu zerbrechen drohen. Wenn die Mutter beispielsweise jeden Tag drei Mal Fleisch beim Metzger kauft, um für eine Großfamilie zu kochen, das aber schon lange nicht mehr kann und das Fleisch dann in der Wohnung vergammelt. Oder der Vater in die Wohnung oder Kneipe pinkelt, weil er den Weg zur Toilette nicht mehr findet. Die schwierigen Situationen führen zu Scham, Wut, manchmal Aggression. Und viel zu oft zu Isolation, um sich selbst, vor allem aber den Erkrankten, vor abfälligen Reaktionen zu schützen.

„Uns gehen Menschen verloren,“ sagt Andrea Münch. Die Sozialarbeiterin will das nicht akzeptieren. Menschen mit Demenz gehörten in die Stadt. „Das ist eine Alltagserkrankung, die zum Leben im Alter gehört.“ 200?000 direkt Betroffene leben in Baden-Württemberg. Ihre Zahl steigt. Dafür spricht die demographische Entwicklung. Nicht zunehmen wird das professionelle Pflegeangebot in Heimen. Schon jetzt fehlen Fachkräfte allerorten. Und auch die Zahl pflegender Angehöriger dürfte schwinden. Sie stemmen heute den größten Teil der Versorgung. Was also tun?

„Wir müssen versuchen, dass Menschen mit Demenz so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld leben können“, sagt Münch. Dazu braucht es Kommunen, die sich dieser Aufgabe stellen. Die Landesregierung fördert fünf Modellprojekte, auch Walldorf. Dort soll ermittelt werden, was eine demenzfreundliche Kommune auszeichnet.

Für Andrea Münch beginnt das mit einem neuen Denken. „Es geht um eine Sensibilisierung.“ Die Fleischverkäuferin in der Metzgerei müsse bemerken, dass die Kundin weit über ihren Bedarf einkauft. Die Friseurin, dass ihr Gegenüber aus der Zeit gefallen ist; der Kegelfreund, dass Herr Müller schon lange fehlt; der Busfahrer, dass ein Fahrgast jede Orientierung verloren hat; die Kirchengemeinde, dass Frau Maier schon lange nicht mehr gesehen worden ist. „Die meisten Menschen sind hilfsbereit, wenn sie registrieren, dass ein Anderer Unterstützung braucht“, ist Münch überzeugt. Das kann ein freundliches Wort zur Beruhigung sein, der Hinweis „wir haben den gleichen Nachhause-Weg“ oder der frei erfundene Hinweis des Metzgers, dass doch der Ehemann schon eingekauft habe. „Menschen mit Demenz brauchen ein verständnisvolles Umfeld, das ihnen nicht ständig Defizite vor Augen führt.“ Und sie wollen als Menschen wahrgenommen werden. Nicht als Versorgungsobjekte.

Andrea Münch will deshalb Netzwerke knüpfen. Wenn der Einzelne wisse, dass nicht alles an ihm hängt, werde es leichter, Menschen für die Unterstützung von Demenzkranken zu gewinnen. Das Ziel ist, eine Art Frühwarnsystem für Menschen in Not zu entwickeln. Je weitsichtiger das Umfeld, desto wirksamer können Angehörige unterstützt werden und desto wahrscheinlicher ist es, Menschen mit Demenz im gewohnten Lebensumfeld halten zu können.

In der 15?000-Einwohner-Stadt Walldorf sind die Voraussetzungen dafür gut. Es gibt rege Vereine wie die Generationenbrücke, aktive Kirchengemeinden, Einzelhändler und Paten, die das Netzwerk für Demenz unterstützen wollen. Einen Impuls dafür haben möglicherweise auch der Schilderbaum und die Standuhr gegeben.

Ein Mann vor einer irritierenden Uhrenskulptur. Foto: Stadt Walldorf

Ein Mann vor einer irritierenden Uhrenskulptur. Foto: Stadt Walldorf

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Erstellt:
08.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 52sec
zuletzt aktualisiert: 08.09.2021, 06:00 Uhr

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