Corona-Lernlücken

Freiwillig Sitzenbleiben: Soll mein Kind wiederholen?

Wegen Corona fiel eine Menge Unterricht aus, Lernlücken können enorm sein. Macht freiwilliges Sitzenbleiben Sinn? Welche Möglichkeiten es gibt und was Experten raten.

03.07.2021

Von Axel Habermehl

Zeugnis-Vergabe in NRW: In Baden-Württemberg ist es noch nicht soweit, aber manche Eltern stehen vor schwierigen Entscheidungen. Foto: David Inderlied

Zeugnis-Vergabe in NRW: In Baden-Württemberg ist es noch nicht soweit, aber manche Eltern stehen vor schwierigen Entscheidungen. Foto: David Inderlied

Unter Eltern von Schulkindern ist es seit Wochen ein großes Thema: Wie sollen die teils erheblichen Lernlücken infolge der Corona-Ausfälle ausgeglichen werden? Seit den ersten Schließungen im März 2020 ist, je nach Schule und Klassenstufe, viel Unterricht ausgefallen, Fernunterricht war kein gleichwertiger Ersatz. Eltern sind in Sorge. Was ist mit den Erstklässlern, die teils gar nicht richtig in der Schule angekommen sind und nur Notbetrieb kennen? Was mit Viertklässlern, die vor dem Wechsel auf weiterführende Schulen stehen? Wie sollen Sechstklässler an Gymnasien die zweite Fremdsprache lernen, in der sie kaum Unterricht hatten? Der Stoff baut ja aufeinander auf.

Angesichts solcher Fragen und Zweifel bezüglich geplanter Aufholprogramme stellen sich manche eine Grundsatzfrage: Sollten Kinder das verkorkste Jahr abschreiben und wiederholen, selbst wenn Noten, vielleicht knapp, zur Versetzung reichen? Doch vor so einer Entscheidung gibt es viel zu bedenken.

Wie ist die Lage? Vergangenes Jahr war das Sitzenbleiben ausgesetzt. Man konnte freiwillig wiederholen, doch das taten nur Wenige. An Haupt- und Werkrealschulen wiederholten landesweit nur 592 Schüler, in den Vorjahren waren es immer mehr als 1300. An Realschulen gingen 2089 Schüler zurück, etwa halb so viele wie in Vorjahren; ebenso wie an Gymnasien, wo vergangenes Jahr 2291 Schüler wiederholten.

Wie ist es dieses Jahr? Man kann wieder sitzenbleiben. Wie oft das droht, bleibt abzuwarten. Der Ulmer Schulleiter Bernhard Meyer sagt: „Da im vergangenen Schuljahr alle Schüler in die nächst höhere Klasse versetzt wurde, sind wohl auch einige Schülerinnen und Schüler versetzt worden, die das Klassenziel nicht erreicht hätten. Wir werden abwarten müssen, wie sich das auf die Klassengröße im nächsten Schuljahr auswirkt.“ Er sei zuversichtlich, dass es, auch durch Förderprogramme, in vielen Fällen gelinge, Versäumtes auszugleichen. „Wenn aber die Lücken zu groß sind, kann eine Wiederholung im Einzelfall sinnvoll sein.“

Welche Möglichkeiten gibt es? Freiwillige Wiederholungen sind möglich. Sie werden aber laut Kultusministerium nur dann nicht, wie sonst, als „Wiederholung wegen Nichtversetzung“ gewertet, wenn die Noten für eine Versetzung reichen würden. Damit bleibt etwa die Option erhalten, erneut eine Klasse freiwillig zu wiederholen. Schüler der gymnasialen Oberstufe haben die Möglichkeit, eine Jahrgangsstufe freiwillig zu wiederholen, ohne dass dies auf die „Höchstverweildauer“ in der Oberstufe angerechnet wird. Außerdem gibt es diverse Möglichkeiten, Versetzungsentscheidungen zu verschieben, oder „auf Probe“ versetzt zu werden.

Was sagt die Wissenschaft? Grundsätzlich dienen Klassenwiederholungen drei Zwecken. Erstens sollen Sitzenbleiber die Möglichkeit bekommen, Stoff zu wiederholen. Zweitens dient das Mittel der Herstellung möglichst leistungshomogener Lerngruppen. Drittens soll allein die Drohung Schüler motivieren. Dass diese Zwecke erreicht werden, halten Bildungsforscher für fraglich. „Teuer und unwirksam“ überschrieb der Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm 2009 eine Studie. Knapp eine Milliarde Euro kosteten Klassenwiederholungen bundesweit jährlich. Doch: „Klassenwiederholungen führen weder bei den sitzengebliebenen Schülerinnen und Schülern zu einer Verbesserung ihrer kognitiven Entwicklung, noch profitieren die im ursprünglichen Klassenverband verbliebenen Schülerinnen und Schüler von diesem Instrument.“ Auch der Tübinger Bildungsforscher Ulrich Trautwein, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beraterkreises des Kultusministeriums, hält wenig von der Maßnahme. „Sitzenbleiben ist generell ein relativ ineffizientes Instrument für die betroffenen Schüler; die Sitzenbleiber haben oft auch in ihrer neuen Klasse Leistungsprobleme“, sagt er und rät: „Statt in kostspielige Wiederholungsjahre sollte man verstärkt in eine adaptive, individuelle Unterstützung und Förderung von Schülern investieren.“

Was gilt es noch zu bedenken? Nina Großmann ist Schulpsychologin. Sie nimmt derzeit einen großen Beratungsbedarf zum Thema wahr. Eine pauschale Empfehlung, das Jahr zu wiederholen, macht aus ihrer Sicht „gar keinen Sinn“. Auch sie setzt eher auf Programme zum Aufholen des Stoffes. „Unfreiwilliges Sitzenbleiben ist ein Versagenszeugnis, ein Angriff auf das Selbstwertgefühl.“ Ein „positiver Selbstwert“ aber sei schlichtweg die wichtigste Voraussetzung für Motivation und Lernerfolg.

Keine Chance, sondern Abstieg

Wer sitzenbleibt oder gar die Schulart wechseln soll, muss seine Klassengemeinschaft verlassen, fühle sich oft als „Loser“ und falle „in ein Motivationsloch“, sagt Großmann. „Ganz oft ist das keine zweite Chance, sondern ein Abstieg.“ Eltern sollten vor allem mit Kind und Lehrern sprechen. Beziehungen innerhalb der Klasse oder zu Lehrern seien vor einer Entscheidung ebenso zu bedenken wie der Leistungsstand. „Prinzipiell müssen das Kind und seine Familie eine Wiederholung als Chance sehen. Dann besteht die Möglichkeit, dass es ein Erfolg wird.“

Fehlstart für Studenten-Programm

Seit etwa zwei Wochen läuft das Projekt „Bridge the gap“ zur Unterstützung von Schülerinnen und Schülern nach dem Corona-Lockdown. Doch die Vermittlung der Aushilfen gestaltete sich schwieriger als gedacht. Statt 550 Lehramtsstudierende konnten nur knapp 400 an die Schulen vermittelt werden, wie Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) der Nachrichtenagentur dpa sagte.

Grund dafür sei unter anderem gewesen, dass die angehenden Lehrkräfte nicht immer den weiten Weg aus den Universitätsstädten wie Freiburg, Tübingen und Heidelberg aufs Land in Kauf nehmen wollten.

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Erstellt:
03.07.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 28sec
zuletzt aktualisiert: 03.07.2021, 06:00 Uhr

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