Justiz

„Sie war ein Häufchen Elend“

Ein 50-Jähriger steht in Stuttgart vor Gericht, weil er versucht haben soll, ein Mädchen zu entführen und zu missbrauchen. Er gilt als psychisch auffällig.

26.11.2020

Von DOMINIQUE LEIBBRAND

Stuttgart. Am Ende ist fast nichts passiert, der Fall, der jetzt vor dem Stuttgarter Landgericht verhandelt wird, hätte aber auch als Tragödie enden können. Am Mittwoch hat dort der Prozess gegen den Mann begonnen, der im Juni versucht haben soll, eine Achtjährige von der Straße weg zu entführen und sie sexuell zu missbrauchen. Dass es nicht so weit kam, ist wohl vor allem einer engagierten Zeugin zu verdanken, die dazwischenging.

Als der 50-jährige Stuttgarter, Brille, Halbglatze, korpulente Statur, am Mittwoch in den Gerichtssaal geführt wird, hält er sich zum Schutz vor Fotografen einen Aktenordner vors Gesicht. Der Mann gilt als psychisch auffällig, ist möglicherweise nur vermindert schuldfähig. Das soll ein psychiatrischer Gutachter klären. Im Wesentlichen räume sein Mandant die Sache ein, sagt sein Verteidiger am Rande der Verhandlung. Dem Mädchen erspart er damit die Aussage vor Gericht.

Die Achtjährige ist der Anklage zufolge am 19. Juni dieses Jahres im Stuttgarter Osten auf dem Heimweg von der Schule, als der Angeklagte an sie herantritt. Er kennt ihren Namen, am Vortag soll er sie schon einmal angesprochen haben, ihr bis nach Hause gefolgt sein. „So, jetzt hab' ich dich“, sagt er zu ihr, packt sie am Arm und zerrt sie mit sich. Mit sich führt der Mann einen Rucksack, in dem die Polizei später ein ganzes Arsenal an Sexspielzeug und Fesselutensilien findet. Auch ein Messer hat er dabei. Und Überraschungseier. Als Lockmittel?

Die Wohnung des Mannes liegt nur wenige hundert Meter entfernt, er will das Mädchen laut der Anklage dort hinbringen. Zur selben Zeit geht die 42-jährige Sarah Jacobi auf der anderen Straßenseite. Im Zeugenstand erzählt die Personalleiterin, dass ihr die Sache komisch vorgekommen sei, wie er das Mädchen am Unterarm festhielt. Sie fordert den Mann auf, stehen zu bleiben. „Ich habe ihn gefragt, ob er der Vater des Mädchens ist.“ Darauf nuschelt der Angreifer etwas von Gesundheitsamt. Sarah Jacobi spricht das Mädchen direkt an, ob sie den Mann kenne, ob sie mit ihm gehen wolle. Die Schülerin verneint. „Sie war total aufgelöst, hat geheult, war zittrig“, erzählt die 42-Jährige. Ein „Häufchen Elend“, sagt sie später bei der Polizei. Sie ruft das Mädchen zu sich. In dem Moment flieht der Angreifer. Die Vorsitzende Richterin Sina Rieberg bescheinigt Jacobi: „Sie sind die Heldin dieses Verfahrens.“

Während Jacobi aussagt, nickt der Angeklagte immer wieder zustimmend. Überhaupt taut er im Laufe des Tages immer mehr auf, macht Bemerkungen, gestikuliert. Am Vormittag hatte er unter Ausschluss der Öffentlichkeit Angaben zur Person gemacht, aber nicht zur Sache. Dem psychiatrischen Gutachter gegenüber, der im Verfahren noch gehört wird, soll er sich mehr geöffnet haben. Einem Polizisten berichtete er zudem von einem Traum, in dem er eine Frau mit einem Messer ersticht. Diese habe Ähnlichkeit mit seiner ersten Freundin gehabt, die ihn wegen seiner sexuellen Leistung verlacht habe.

Nach Schilderungen seines Bruders ist der 50-Jährige, der Steuerfachhilfe gelernt hat, seit fast 20 Jahren arbeitslos und nimmt schon lange Psychopharmaka. Sein Bruder sei antriebslos, ein Messi, der mit Frauen, wenn überhaupt, eher schlechte Erfahrungen gemacht habe, erzählt der 60-Jährige. Nach der ersten Verhaftung – der Angeklagte war zunächst wieder auf freien Fuß gesetzt worden – führten die Geschwister ein offenes Gespräch. Da habe ihm sein Bruder offenbart, dass er sich im ersten Corona-Lockdown isoliert gefühlt und angefangen habe, Pornos zu konsumieren. Mit Blick auf die Tat habe er reflektierend gesagt: „Da hätte was passieren können, was ich mir vorher nicht hätte vorstellen können.“ Gemeinsam hatten die Brüder bereits eine Therapeutin kontaktiert. Dann kam, fünf Tage nach der Tat, die endgültige Verhaftung.

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Erstellt:
26.11.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 55sec
zuletzt aktualisiert: 26.11.2020, 06:00 Uhr

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