Corona

Pandemie für die Psyche

Die seelischen Auswirkungen der Krise werden sichtbar. Viele Therapeuten sind ausgelastet – nicht jeder Patient bekommt einen Platz. Sind Folgeschäden möglich?

19.02.2021

Von Laura Liboschik

In allen Altersgruppen nehmen im Lockdown psychische Probleme zu. Foto: ©fizkes/shutterstock.com

In allen Altersgruppen nehmen im Lockdown psychische Probleme zu. Foto: ©fizkes/shutterstock.com

Isolation, Stress und Angst: Die Corona-Pandemie bringt besondere Belastungen im Alltag mit sich und schlägt auf die Stimmung – zunehmend sogar schwerwiegend. Das zeigt sich in den Praxen von Psychotherapeuten, in Befragungen zum Alkoholkonsum und an den Anrufen beim Opfer-Telefon des Weißen Rings.

Therapie „Immer mehr Menschen melden sich zur Behandlung an“, berichtet Gebhard Hentschel, Diplom-Psychologe und Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung mit 15?000 Mitgliedern. Das hat eine Blitzumfrage von 4693 Mitgliedern des Verbands zwischen dem 22. Januar und dem 7. Februar 2021 bestätigt: Insgesamt ist die Zahl der Patientenanfragen im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent gestiegen. Aber die Praxen sind ausgelastet. Nur jeder vierte aktuell anfragende Patient erhält laut Umfrage einen Termin für ein erstes Gespräch.

In seiner Praxis in Münster betreut Hentschel Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Die Pandemie wirke sich jedoch nicht nur auf neue Patienten aus, sondern auch auf die, die bereits in Therapie sind, sagt er. „Depressiv Erkrankte ziehen sich weiter zurück und Zwangserkrankungen blühen wieder auf.“ Als Beispiel nennt der Psychotherapeut den Waschzwang, der durch die Hygieneregeln verstärkt wird. Viele hätten aber auch Angst vor dem Virus selbst: Angst vor einer Infektion oder davor, andere anzustecken.

Der Psychologe befürchtet, dass die Zahlen nach der Pandemie nicht gleich sinken werden: Medizinisches Personal müsse gerade die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. „Wir vermuten, dass sie aktuell keine Zeit haben, sich mit der eigenen Psyche zu befassen.“ Die Nachwirkungen kämen vielleicht später. In China wurden dazu in der ersten Corona-Welle im März 2020 insgesamt 1257 Angestellte aus 34 Krankenhäusern befragt. Das Ergebnis: 50 Prozent zeigten Belastungen mit Depressionen, 45 Prozent mit Angst, 34 Prozent mit Schlafstörungen.

Außerdem: Fast jedes dritte Kind zeigt knapp ein Jahr nach Beginn der Pandemie in Deutschland psychische Auffälligkeiten, ergab eine Studie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf mit mehr als 1000 Befragten zwischen elf und 17 Jahren. „Kinder melden sich teilweise selbst zur Therapie an, da merkt man die echte Not“, sagt Therapeut Hentschel. Es fehlen soziale Kontakte und Struktur, die Schule und Engagement in Vereinen bieten. Bei vermehrter Internetpräsenz seien auch Schlafstörungen ein Problem. Nach der Pandemie müssten viele zurückgeholt und motiviert werden. „Ich fürchte, es wird nicht allen gelingen, hier ist Unterstützung notwendig.“

Eine große Rolle spielen die eingeschränkten sozialen Kontakte. Besonders betreffe das Alleinerziehende und Single-Haushalte, aber auch Ältere. „Die physische Distanz wird psychisch“, sagt er. Im Grunde sei es wie eine lange Fastenzeit. Manche profitierten von der Entschleunigung, aber „Menschen, die eh schon belastet sind, die laufen jetzt über“. Oft habe der Therapeut mit Kriseninterventionen zu tun, wo schnelle Hilfe gefragt sei, auch online. Zwischen 10 und 20 Prozent der Sitzungen finden bei ihm per Video statt. Eine Umfrage der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) zeigt: Fast 90 Prozent der Therapeuten können sich vorstellen, auch künftig zusätzlich per Video zu behandeln.

Sucht Auch das Suchtpotenzial steigt in der Krise. 35,5 Prozent haben im März und April 2020 mehr Alkohol getrunken; 45,8 Prozent rauchten mehr. Das hat eine Online-Umfrage mit 3214 Personen ergeben, durchgeführt von Falk Kiefer, Ärztlicher Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, und Thomas Hillemacher, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg. „Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass es wichtig ist, die Bevölkerung über mögliche Langzeiteffekte eines erhöhten Konsums im Lockdowns zu informieren“, sagt die an der Studie beteiligte Anne Koopmann, Oberärztin am ZI Mannheim. Ihr Kollege Falk Kiefer warnt zudem: „Die Kombination von vermehrtem Alkoholkonsum und Stress kann zu einem erhöhten Aggressionspotenzial führen.“

Gewalt „Es entstehen Spannungen, wenn Menschen auf engem Raum zusammensitzen“, sagt Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des Weißen Rings und ehemaliger Präsident des deutschen Bundeskriminalamts. Der Verein mit rund 400 Außenstellen hilft Kriminalitätsopfern. Wenn Familien länger als gewohnt zusammen seien und der Alltag gestört sei, komme es vermehrt zu häuslicher Gewalt. Ziercke geht davon aus, dass durch die Corona-Einschränkungen psychische Belastungen wie Zukunftsängste hinzukämen. Opferhilfeorganisationen kennen das von Festtagen wie Weihnachten. Das trifft auch auf den Lockdown zu, wie die um etwa 20 Prozent gestiegene Zahl der Anrufe beim Opfer-Telefon und der Online-Beratung des Weißen Rings zeigt. Allerdings stiegen die Zahlen dort schon länger, erklärt ein Sprecher. Das zeige, wie drängend das Problem auch unabhängig von der Pandemie sei. Der Verein halte daher an der Warnung fest, dass das Risiko von häuslicher Gewalt mit den Corona-Einschränkungen noch einmal merklich gestiegen sei.

„Dass diese Phase in die dunkle Jahreszeit fällt, in der es ohnehin mehr Vorfälle gibt, verschlimmert die Lage zusätzlich“, sagt Ziercke. Der Verein gehe davon aus, dass es Zeit brauche, bis belastbare Zahlen zeigen, wie die Pandemie und die Beschränkungen das Deliktfeld verändert haben. Der Grund: „Es gibt Studien, nach denen eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau etwa sieben Anläufe benötigt, sich aus der Beziehung zu befreien.“

Pandemie für die Psyche

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Erstellt:
19.02.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 33sec
zuletzt aktualisiert: 19.02.2021, 06:00 Uhr

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