Hechingen/Tübingen

Nationalsozialismus: Die Enkel öffneten den Blick

Kommunist, KZ-Gefangener, Soldat, Opfer der Résistance: Das war Erwin Schuler. Seine Nachfahren taten sich schwer mit dem Erbe. Von Elisabeth Zoll

13.11.2021

Von  Von Elisabeth Zoll

Der Kommunist und Tübinger Verleger Erwin Schuler. Privatbild

Der Kommunist und Tübinger Verleger Erwin Schuler. Privatbild

Hechingen/Tübingen. Wie soll man den in Hechingen geborenen Erwin Schuler einordnen? Der Mann, Jahrgang 1906, war ein Volkswirt. Und er war Kommunist. In Stuttgart betrieb er einen Verlag und unterrichtete an der marxistischen Arbeiterschule Stuttgart. Den Nationalsozialisten war der politisch Aktive ein Dorn im Auge. Schon im März 1933 wurde er verhaftet, zunächst ins KZ Heuberg und anschließend in das KZ Oberer Kuhberg in Ulm gebracht.

Hunger, Kälte und schwere Misshandlungen zeichnen den Mann. Und Quälereien. Darüber berichten nach dem Krieg Mitgefangene. Erwin Schuler sei „wiederholt in fürchterlichster Weise in einem besonderen Raum verprügelt worden, sodass er mit dem Gesicht zu Erde gekehrt ohnmächtig da lag.“ Schuler wird nach zehn Monaten entlassen. Die Nationalsozialisten behalten ihn weiter im Blick.

1941 ziehen sie den Kriegsgegner zur Wehrmacht ein. Er muss Kriegsgefangene bewachen. 1943 wird er nach Nordfrankreich geschickt. Ein Zug mit deutschen Soldaten wird im Juli 1943 Ziel eines Anschlags einer Résistance-Gruppe. Auch Erwin Schuler stirbt. Als vermeintlicher Feind Frankreichs erhält er ein Grab auf dem Soldatenfriedhof von Bourdon in der Somme. Auch im Tod blieb der Hitler-Feind umgeben von Nazis.

Wie erinnert man an einen Mann, der Gegner der Nationalsozialisten war und doch gestorben ist als Wehrmachtssoldat? Und wie konnten seine Nachfahren, Sohn Michael, ein dem Antifaschismus verschriebener linker Politikwissenschaftler, und Enkel Bernold Hasenknopf, der als Chemieprofessor an der französischen Universität Sorbonne lehrt, in ihrer französischen Heimat über ihre Familie sprechen? Mit welcher Art Stolz durften sie ihres Vorfahren gedenken?

„Mir war die ganze Familiengeschichte unangenehm“, sagt Michael Schuler, der 1939 geborene Sohn von Erwin. Ständig begleitete ihn die Angst, auch sein Vater könnte als Wehrmachtssoldat an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein. Erwin Schuler blendet die Vergangenheit aus. Wie viele. „Nach dem Krieg haben viel geschwiegen: die Täter und die Opfer.“ Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Michael Schuler studiert. Sogar einige Monate in Frankreich. Dass die Erinnerungen an deutsche Kriegsverbrechen lebendig sind, erfährt er hautnah, auch wenn er selbst in Grenoble vor allem mit linkssozialistischen Widerstandskreisen in Verbindung war.

Der Zugang zur eigenen Geschichte ändert sich erst mit seinen Enkeln. Diese fanden Briefe des Urgroßvaters und rekonstruierten seinen Kriegseinsatz. „Dabei ist deutlich geworden, dass mein Vater Erwin nie an die Front musste.“ Er war zuerst zur Bewachung von Kriegsgefangenen eingesetzt und später, als „Oberschreiber“, in eine Schreibstube abkommandiert. Er war im Krieg, ohne sich die Hände blutig gemacht zu haben. „Das hat meinen Mann extrem beruhigt“, sagt Odrun Schuler.

„In der Familiengeschichte Schuler zeigt sich exemplarisch, wie sich Erinnern über Generationen hinweg verändert“, betont Nicola Wenge, wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg. Denn es waren Enkel und vor allem Urenkel von Erwin Schuler, die mit Neugierde und Offenheit zur Familiengeschichte forschten. Sie scheuten sich auch nicht, die kurvenreiche persönliche Geschichte auf Einladung des Bürgermeisters am 8. Mai 2019 im einst von Deutschen besetzten französischen Ort Grandcourt zu erzählen. Also genau dort, wo der Zug der Wehrmachtssoldaten 1943 in die Luft gejagt wurde und die Soldaten ihren Tod fanden.

Nachfahren von Erwin Schuler werden am Sonntag bei der Gedenkfeier an die Widerstandskämpfer von 1933 bis 1945 in der KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg (11 Uhr) über das Erinnern der Generationen sprechen. Und über ihre Erfahrungen in Grandcourt. Denn auch gut 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges sind in der Region Somme die Erinnerungen an die deutsche Besatzungszeit und die Gräuel, die Deutsche bereits im Ersten Weltkrieg an der Bevölkerung verübten, lebendig. „Jeder weiß, wer in seiner Familie im Krieg von den Deutschen getötet worden ist“, sagt der Urenkel von Erwin Schuler, Raphael Hasenknopf. Und auch Jahrzehnte nach dem Krieg kann nicht jede französische Familie den Deutschen vergeben. „Eine Familie sagte klar: Mit Deutschen essen wir nicht,“ erinnert sich Michael Schuler.

Für den heute 82-Jährigen war das grenzübergreifende Erzählen eine Befreiung. „Das war die erste anständige Gedenkfeier für meinen Vater“, sagt Michael Schuler. Erst durch die Enkel und Urenkel konnte das Familienerbe so betrachtet und geborgen werden.

Oberer Kuhberg

Kurz nach den Reichstagswahlen 1933 errichteten die Nationalsozialisten Lager zur Ausschaltung politischer und weltanschaulicher Gegner. So auch das Lager Oberer Kuhberg in Ulm. Zwischen November 1933 und Juli 1935 waren dort etwa 600 Männer untergebracht. Viele entstammten der württembergischen SPD und KPD, wie Kurt Schumacher als SPD-Reichstagsabgeordneter und Alfred Haag als KPD-Landtagsabgeordneter.

Zum Artikel

Erstellt:
13.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 17sec
zuletzt aktualisiert: 13.11.2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter los geht's
Nachtleben, Studium und Ausbildung, Mental Health: Was für dich dabei? Willst du über News und Interessantes für junge Menschen aus der Region auf dem Laufenden bleiben? Dann bestelle unseren Newsletter los geht's!