In eigener Sache

Nach 32 Jahren geht Redakteurin Ulla Steuernagel in Rente

Nach 32 Jahren verabschiedet sich Ulla Steuernagel aus der TAGBLATT-Redaktion. Im Sonntagsgottesdienst in Opladen lernte sie, wie nützlich die Langeweile sein kann. Die Zeitung profitierte davon enorm.

05.09.2020

Von Ulrich Janßen

„Was soll das schlechte Leben nützen?“: Ulla Steuernagel an ihrem letzten Arbeitstag. Bild: Ulrich Metz

„Was soll das schlechte Leben nützen?“: Ulla Steuernagel an ihrem letzten Arbeitstag. Bild: Ulrich Metz

Ulla Steuernagel geht? Das geht ja gar nicht! Diese Frau ist doch nie im Leben 65 Jahre alt! Das muss ein Irrtum sein. Ein Zahlendreher im Geburtenregister von Opladen. Ulla Steuernagel im Ruhestand? Unmöglich.

Beweise? Erstens: Vor ein paar Wochen erst hat ein junger Kollege sie „Zeilenmaschine“ genannt. Ein bisschen rabiat war das, aber es schwang auch Ehrfurcht mit. Richtig daran ist, dass sie in letzter Zeit geradezu furchteinflößend fleißig war. Naja, könnte man jetzt sagen: Fleißig sein kann jede(r), auch im Alter.

Doch ihre Artikel sind, zweitens, auch noch gut. Ulla Steuernagel (ich weiß das, weil ich ihr gegenüber sitze) kann aus dem Fenster schauen, ein bisschen am Telefon plaudern, surfen oder in einer alten Zeitschrift blättern, und hat im Nu ein neues Thema. Ein Thema, das sie, drittens, meistens unfassbar gut rüberbringt. Sie kann einfach genial schreiben. Schiefe Vergleiche, öde Floskeln, Journalistenpathos oder billige Modeworte bekommt sie gar nicht in den Computer getippt. Irgendeine Instanz in ihrem Kopf verhindert das so zuverlässig, wie das Tageslicht Vampire vom Blutsaugen abhält.

Ruhestand? Nein, wirklich nicht.

Sie hat ja auch noch genug zu tun. Wie es sich gehört in einer Zeitungsredaktion betreut Ulla Steuernagel bei uns ein paar Ressorts. Zuständig ist sie für die Kinos und den Einzelhandel, die Medizin und die Uni, und für die Rechte der Frauen kämpft sie auch. Zeitweise war sie sogar für den (leider eingestellten) Rundfunksender Uhland 2 verantwortlich, sie kümmerte sich um die Jugendseite und berichtete ein paar Jahre aus der Gemeinde Kusterdingen. Man darf also mit allem Recht der Welt sagen, dass sie sich um das sogenannte journalistische „Schwarzbrot“ nie gedrückt hat. Wenn man jemanden suchte, der einen lästigen Termin übernahm: Ulla schaffte es fast nie, nein zu sagen.

Ihr Lieblingsressort war aber eindeutig das Ressort für alles und nichts. Es ist ein sehr spezielles Ressort, hier trudeln keine Pressemitteilungen ein, man geht nicht auf Pressekonferenzen. In diesem Ressort schaut man sich um.

„ust“ schaut sich gern um, sie ist immer auf der Suche nach etwas Neuem und kann in diesem Punkt sehr wählerisch sein. Wenn man ihr sagt: Hast du da schon von gehört, das ist doch extrem spannend, passiert es oft, dass sie nur „Pfffff“ macht. Hat sie doch längst von gehört, findet sie langweilig. Andererseits kann es sein, dass sie, wenn andere etwas richtig langweilig finden, neugierig wird und den Stift herausholt.

Eins ist klar: Sie lässt sich nicht gern ausrechnen. Jahrelang habe ich versucht, mit ihr Moderationen für die Gutenachtgeschichte des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS zu planen, ich hatte mir richtig gute Gags überlegt, fantastische Übergänge und brillante Einführungen. Hinterhältig nickte sie dann allem zu, um es später vergnügt umzuwerfen. Sie kann so gemein sein.

Dass sie Leute mag, die eigenwillig sind, ein bisschen was riskieren und auffallen, ist kein Wunder. Der schnittfeste Zauberkünstler, der einarmig tätowierte Frisör, der Kinderarzt mit den drahtigen Tieren, der egomanische Koch, der charmante Hochstapler, der Professor mit dem Huhn im Wohnzimmer. Mit solchen Leuten versteht sie sich bestens. Sie geht übrigens auch gern in den Zirkus.

Rätselhafterweise mag sie auch das gewöhnliche, stinknormale Alltagsleben. Wie passt das zusammen? Ganz einfach: Für sie ist das normale Leben wie eine graue Kiste mit vielen funkelnden Schätzen darin. Sie findet sie alle: Die Glibberaugen im 99-Pfennig-Laden („wozu erhalten Kinder eigentlich Taschengeld?“), das „Burda-Schnittmuster“ in der Paul-Horn-Arena, das „Skalpell für Heimchirurgen“ auf dem Georgimarkt und die neuesten Trends in der Trauerfloristik („zurück zu Mutter Graberde“).

Woher kommt dieser Blick für den Zauber des Alltags? Vielleicht hat es mit ihrem Studium zu tun. Wer Kunstgeschichte studiert, sollte sich auskennen mit dem Schönen und Hässlichen. Und wer dazu noch Empirische Kulturwissenschaft studiert, lernt, wie man das Schöne und Hässliche im Alltag findet.

Ein bisschen könnte es aber auch mit ihrer Kindheit zu tun haben, die, vorsichtig formuliert, wechselhaft war. Zunächst sehr behütet und sorgenfrei, und dann, von einem Tag auf den anderen, fast schon prekär.

Ulla Steuernagel wuchs in Opladen auf, im Rheinland, wo man („was soll das schlechte Leben nützen?“) die Gegenwart zu schätzen weiß, wo die Leute fröhlich, gesellig und katholisch sind. Es waren die Sonntagsgottesdienste, sagte sie einmal, wo sie gelernt habe, sich Attraktionen zu suchen, um der Langeweile zu entrinnen. Wenn der Pfarrer seine Predigt hielt, studierte die kleine Ulla die Pelzmäntel der großbürgerlichen Damen.

Was Ulla nicht mag: Die große Politik, die Sphäre der Macht, die viele Journalisten anzieht. Da ist ihr viel zu viel Wichtigtuerei und Funktionärsgehabe im Spiel, das ist nicht ihr Ding. Ist sie also unpolitisch? Jemand, die nur spielen will, die zwar in der Fasnets-Ausgabe die schönsten Artikel schreibt, kundig über Forsythien lästert und über junge Frauen mit „Mama“-Komplex? Aber nicht wirklich ernst zu nehmen ist?

Von wegen! „ust“ ist sehr ernst zu nehmen, auch politisch, nur äußert sie das nicht in Leitartikeln. Politik ist für sie, wenn sie die zu Wort kommen lässt, die nicht zu Wort kommen, die Schwächeren. Da ist sie kein bisschen ironisch, sondern will es ganz genau wissen, im O-Ton. Sie recherchierte und schrieb über Mieter, die von einem Wohnungskonzern drangsaliert werden, über den kleinen Händler in der Südstadt, dem der Laden gekündigt wurde, und über die krummen Biografien der Berber aus der Vesperkirche.

Es war kein Zufall, dass sie in der Redaktion so viele Nachrufe schrieb wie niemand sonst. Sie versteht etwas von Menschen, findet Zugang, kann sich hineindenken und hat den Mut, bei Freunden und Verwandten anzurufen. Der 17-jährige Junge aus Kusterdingen, der auf den Gleisen einschlief und überrollt wurde. Dennis, der mit 19 Jahren im Auto verunglückte und in einem Sarg in Flaschenform beerdigt wurde. Sie fand die richtigen Worte in solchen Fällen, eindringlich, aber nicht pathetisch, mit Abstand, aber auch mit Mitgefühl. Nicht selten hatte sie, selbst Mutter von zwei Söhnen, abends Tränen in den Augen, wenn der Nachruf geschrieben war.

Dies ist kein Nachruf, zum Glück. Aber es ist klar, dass Ulla der Redaktion sehr fehlen wird. Denn es ist leider wahr, sie geht eben doch, die 65 stimmen. Ich werde sie, wie die ganze Redaktion, sehr vermissen. Wir waren 30 Jahre lang ein gutes Team. Der Sommerkrimi, die Gutenachtgeschichte, die Kinder-Uni und einiges mehr hat uns verbunden, wir hatten viel Spaß. Die Kinder-Uni brachte Ulla Steuernagel sogar ein Bundesverdienstkreuz ein, sie wurde Bestsellerautorin und ein bisschen berühmt. Selbst in China las man die Kinder-Uni-Bücher.

Wird man in Tübingen noch Artikel von ihr lesen? Oder wird sie künftig Aquarelle malen? Alte Fotoalben durchblättern? Ahnenforschung betreiben? Ein E-Bike kaufen? Für Überraschungen war sie immer gut. Wir sind gespannt.

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Erstellt:
05.09.2020, 06:30 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 31sec
zuletzt aktualisiert: 05.09.2020, 06:30 Uhr

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