Tübingen · Gesundheitstag

Eine Pumpe für die Pumpe

Christian Nills Herz braucht allerlei Hilfsmittel, damit es im Takt bleibt und die lebenswichtige Leistung erbringt. Der ärztlichen Kunst verdankt er sein Leben.

29.02.2020

Von Ulla Steuernagel

Mit der Blutdruckmessung in der Arztpraxis fängt es an. Mitunter finden sich hier die ersten Indizien für eine Herzschwäche. Bild: fineart-collection - stock.adobe.com

Mit der Blutdruckmessung in der Arztpraxis fängt es an. Mitunter finden sich hier die ersten Indizien für eine Herzschwäche. Bild: fineart-collection - stock.adobe.com

Wenn ein junger Mann unter extremer Atemnot leidet, wird das meist als Hinweis auf Asthma verstanden. So dachte auch Christian Nill an Ostern 2016 und ließ sich rasch von einem Freund in die Tübinger Klinik bringen. Atembeschwerden hatte er früher auch schon gehabt, aber kein Grund für ihn, häufiger zum Arzt zu gehen. Diese Berührungsangst gegenüber Ärzten „liegt bei uns in der Familie“, so der in Belsen lebende Mann. Ein Asthmaspray bewahrte er zwar im Kühlschrank auf, aber es half in diesem akuten Fall nicht.

In der Klinik lautete die Diagnose dann anders als erwartet. Nachdem man ihn auf Lunge und Herz geprüft hatte, „haben die mich gleich da behalten“, berichtet der heute 36-Jährige. Und verlassen konnte er die Klinik erstwieder nach zwei Wochen.

Eine voranschreitende Herzinsuffizienz wurde bei dem Patienten festgestellt. Die Herzkatheteruntersuchung ergab zu seiner Erleichterung, dass wenigstens die Gefäße rund ums Zentralorgan in Ordnung waren.

Nill wurde nun medikamentös eingestellt und bekam „einen Haufen Medizin“ verordnet. „Danach ging es mir soweit gut“, sagt der gelernte Feinwerkmechaniker. Doch die Betablocker, blutdrucksenkenden ACE-Hemmer und Diuretika gegen Wassereinlagerungen konnten nicht verhindern, dass er zwei Jahre später mit dem Tod rang.

Im Frühjahr 2019, bei seinem nächsten Notfallbesuch in der Klinik, war sein körperlicher Zustand äußerst beunruhigend. „Ich bekam kaum noch Luft, hatte Ballonfüße und extrem viel Wasser im Körper!“ Zur Sicherheit sei ihm damals ein Defibrillator implantiert worden. Dieser springt an, sobald das Herz aussetzt. Bislang, darüber ist Nill froh, musste er noch nicht auslösen.

Dennoch dauerte es nur wenige Wochen und der Herzpatient wurde wieder in die Klinik eingeliefert. Diesmal war die Lage noch ernster. Nill bekam ein Herzunterstützungssystem (LVAD) eingesetzt. „Es war eine lebensrettende Maßnahme“, so der behandelnde Arzt, Prof. Aron-Frederik Popov, Leiter der Herzinsuffizienzchirurgie. Das LVAD unterstützt die linke Herzkammer und wird an die Herzspitze implantiert. Es saugt das sauerstoffreiche Blut aus der Herzkammer und leitet es in die Hauptschlagader. Ein Kabel, das durch die Bauchdecke nach außen geführt wird, ist mit einem Kasten verbunden, der ein Steuerungsgerät und Akkus enthält. Der Patient hat damit ein anderthalb Kilo schweres Päckchen zu tragen.

Und zwar immer. In jeder Situation, bei jedem Gang, beim Schlafen, beim Duschen muss es wasserdicht verpackt werden, überall ist die Umhängetasche dabei: „Sie ist mein ständiger Begleiter“, sagt Nill lakonisch.

Das Herzunterstützungssystem von Christian Nill sieht äußerlich so aus. Dieses Päckchen muss er ständig tragen. Bild: Ulla Steuernagel

Das Herzunterstützungssystem von Christian Nill sieht äußerlich so aus. Dieses Päckchen muss er ständig tragen. Bild: Ulla Steuernagel

Das normale Pumpvolumen des Herzens liegt bei 5,5 Liter. Bei Nill hatte es sich vor der Operation auf 1,5 Liter reduziert. Mit dem LVAD erreiche er nun 6 Liter, so Popov. Dilatative Kardiomyopathie lautet die Diagnose in Nills Fall. Sie ist bei ihm genetisch bedingt. Die Pumpfunktion des Herzens ist von Geburt an eingeschränkt, die Herzkammer wird auf die Dauer größer, der Herzmuskel dicker. Eine Zeitlang kann das Organ diese Dysfunktion ausgleichen, zum Beispiel durch vermehrte Adrenalinausschüttung und erhöhten Blutdruck. Auf längere Sicht stoßen solche Kompensationsmaßnahmen an ihre Grenzen, irgendwann versagen die körpereigenen Gegenmittel. Diesen Zustand nennen Mediziner „dekompensierte Herzinsuffizienz“, der Körper schafft den Ausgleich nicht mehr. Auch im Ruhezustand leidet der Patient dann unter akuter Atemnot, die Nieren-, Leber-, Magen- und Darmfunktionen sind eingeschränkt, es kommt zu Ödemen. Etwa 15 bis 20 Patienten im Jahr bekommen laut Popov in der Tübinger Klinik als lebenserhaltende Maßnahme ein solches LVAD. Allzu lange sollte der Herzpatient nicht an dieses Gerät gebunden sein, es besteht die Gefahr von Blutgerinnseln. Der technische Unterstützer ist vor allem ein Mittel, um die Zeit bis zu einer Herztransplantation zu überbrücken.

Nill ist seit Frühjahr 2019 krankgeschrieben. Mit dem LVAD-Gerät konnte er nun sogar mit der Wiedereingliederung in den Betrieb beginnen, in dem er seit zwanzig Jahren beschäftigt ist. „Ich bin der Firma sehr dankbar, dass sie mir die Stelle freigehalten hat“, so Nill. Sein Arbeitsplatz gibt ihm auch die Möglichkeit, schwere körperliche Arbeit zu umgehen.

Wie lebt es sich denn eigentlich mit so viel Apparaturen im und am Körper? Nill scheint sich vielleicht schon von Berufs wegen mit Technik leicht zu tun. Außer dem ständigen Summton, der ihn umgibt, findet er es ganz okay. Allzu viel will er sich mit seinen Einschränkungen auch nicht befassen. „Ich habe anfangs darüber gelesen und dann schnell wieder aufgehört“, sagt er verbindlich lächelnd. Zu bedrohlich waren die Fakten, mit denen er da konfrontiert war. Und wie sehr ist sein Leben durch die Herzinsuffizienz geprägt? Diät? „Ich sollte 20 bis 30 Kilogramm abnehmen“, gibt er zu. Aber noch schmeckt es ihm einfach zu gut. Sport? „Der läuft bei mir mehr im Fernsehen, als dass ich ihn mach’“, sagt er mit entwaffnender Ehrlichkeit. Aber es gibt doch so viele Angebote – zum Beispiel Herzsportgruppen? „Schon gehört“, antwortet der Mann wie aus der Pistole geschossen. Und auch Selbsthilfegruppen seien nicht sein Ding. Nill beschönigt nichts. Dass es nicht so weitergeht, weiß er. Spätestens, wenn er zur Untersuchung im Freiburger Klinikum antritt, wird sich sein Leben ändern müssen. Denn auf die Liste der Anwärter für eine Organspende kommt nur, wer seinen Lebenswandel darauf einstellt. Und Nill hofft sehr auf ein Spenderherz. Dass er sich so schnell von seiner LVAD-Operation erholte und nach einem Tag Intensiv- schon auf die Normalstation wechselte, darin sieht Popov einen „Topverlauf“.

Außerdem gönnt er seinem Patienten – der wie alle seine Leidenskollegen ohne das LVAD mit extremen Entbehrungen leben musste –, dass er erst einmal das Leben genießt. Und das gelingt Christian Nill nun. Ob sein Wohnort nicht ein wenig abgelegen ist? „Belsen war ruhig – zumindest, bis ich da gewohnt habe“, sagt er lachend.

Das Universitätsklinikum lädt zusammen mit dem TAGBLATT zum Gesundheitstag mit dem Thema „Herzschwäche“ am Mittwoch, 4. März, ins Sparkassen Carré. Beginn ist um 19 Uhr.

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Erstellt:
29.02.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 00sec
zuletzt aktualisiert: 29.02.2020, 01:00 Uhr

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