Digitalisierung

Die großen Baustellen der Zukunft

Breitband, Verwaltung, Gesundheitswesen, Bildung: Deutschland ist in vielen Bereichen Entwicklungsland.

09.09.2021

Von MICHAEL GABEL, IGOR STEINLE, DOROTHEE TOREBKO, HAJO ZENKER

In diesem Chaos-Büro würde eine bessere digitale Ausstattung möglicherweise helfen. Viel ist davon in Deutschland nicht zu erkennen. Foto: ©Gemenacom/shutterstock.com

In diesem Chaos-Büro würde eine bessere digitale Ausstattung möglicherweise helfen. Viel ist davon in Deutschland nicht zu erkennen. Foto: ©Gemenacom/shutterstock.com

Homeoffice, Videokonferenzen, bargeldloses Bezahlen – kaum jemand kommt seit Beginn der Pandemie an digitalen Technologien vorbei. Gleichzeitig machte die Coronakrise überdeutlich, wie groß die Defizite in Deutschland in Sachen Digitalisierung sind. Was ist in den vergangenen vier Jahren erreicht worden? Und was sind die größten Baustellen?

Infrastruktur Auch 2021 bleibt schnelles Internet für viele Menschen auf dem Land die Ausnahme. Nicht einmal 20 Prozent der Haushalte und Unternehmen dort haben Zugang zum schnellen Gigabitnetz. Mobiles Arbeiten oder Videokonferenzen waren bei vielen Familien während des Lockdowns kaum möglich. Für Unternehmen bedeutet das einen „gravierenden Wettbewerbsnachteil“, wie das Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung feststellte.

Das Versprechen der Großen Koalition, bis 2025 auch den letzten Winkel der Republik ans Hochgeschwindigkeits-Internet anzuschließen, halten Experten für nicht mehr erreichbar, Telekom-Chef Timotheus Höttges sprach zuletzt von 2030. Dabei stehen Fördergelder zu Genüge bereit, doch Bürokratie, Lieferengpässe und ausgelastete Tiefbaufirmen bremsen den Ausbau. Das wohl nur schwer wettzumachende Hauptproblem ist, dass man zu spät angefangen hat. So plante zwar schon 1981 SPD-Kanzler Helmut Schmidt bis 2015 ein Glasfaser-Netz zu verlegen. Nachfolger Helmut Kohl (CDU) hielt dies jedoch für unnötig und ließ lieber Kupferkabel fürs Privatfernsehen vergraben.

Verwaltung 2017 hat der Bundestag mit dem Onlinezugangsgesetz (OZG) entschieden, dass bis Ende 2022 insgesamt 575 Verwaltungsdienstleistungen wie BAföG, Elterngeld oder Geburtsurkunden für die Bürger auch online zur Verfügung stehen müssen. Gelungen ist das nur für 71 Leistungen. Dass die restlichen 504 Angebote noch fristgerecht online angeboten werden können, glaubt laut einer Studie der Hertie School of Governance kaum jemand der Beteiligten. Das Hauptproblem: Die Behörden im Hintergrund hantieren noch immer mit Papierakten.

Gesundheit Fax-Wirtschaft in den Gesundheitsämtern und ein Software-Wirrwarr, das einheitliche Meldestrukturen in Ländern und Bund blockierte: Auch im Gesundheitswesen hat Corona gezeigt, wie schlecht es um die Digitalisierung steht. Dabei gibt es eine vom Bund zur Verfügung gestellte Software namens Sormas, die nach Bedenken der Länder schließlich bundesweit eingeführt werden sollte – bis heute sind nicht alle Ämter angeschlossen und wer angeschlossen ist, nutzt Sormas häufig nur zögerlich. Dabei war es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ja ein Anliegen, die Digitalisierung voranzubringen. So war 15 Jahre lang über die elektronische Patientenakte, in der sich Behandlungsberichte, Röntgenbilder oder Medikation finden, vor allem geredet worden, seit Anfang dieses Jahres ist sie eingeführt. Aber auch hier pflasterten Softwareprobleme und Lieferschwierigkeiten den Weg. Mittlerweile müssen alle Praxisärzte die Gesundheitsakten-Apps befüllen können. Die Nachfrage hält sich aber in Grenzen. Seit Juli gibt es eine Testphase des elektronischen Rezepts, zunächst nur in Berlin-Brandenburg. Ab 2022 soll es überall verschreibungspflichtige Medikamente in elektronischer Form statt auf rosa Papier geben – wenn es denn klappt.

Bildung Auf Landkarten durch fremde Länder surfen, Zeitzeugen per App treffen – digitaler Schulunterricht bietet viele Möglichkeiten. Auch in der Pandemie hätte digitale Technik helfen können, die Schüler in virtuellen Klassenzimmern weiter zu unterrichten. Doch im Praxistest hat die Technik vielerorts kläglich versagt.

Dabei hat der 2019 geschlossene Digitalpakt zwischen Bund und Ländern eigentlich den Weg für einen zeitgemäßen Umgang mit der Technik freigemacht. So will der Bund bis 2024 insgesamt 6,5 Milliarden Euro in die technische Infrastruktur, Leih-Laptops für Lehrer und Schüler sowie Systemadministratoren stecken. Doch die für die Bildung zuständigen Länder rufen das Geld nur schleppend ab. Die Gründe: zu viel Bürokratie, Engpässe bei Laptop-Lieferungen und die Schwierigkeit, an Handwerker zu kommen.

Immerhin: Lehrkräfte scheinen in ihrer großen Mehrheit die Chancen, die der digital unterstützte Unterricht bietet, nutzen zu wollen. In einer Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften unter Mitgliedern gaben 93 Prozent an, digitale Medien im Unterricht bereits jetzt anzubieten. Vier Fünftel wünschen sich aber mehr Fortbildungen.

Verkehr Auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in München kann man die Zukunft des Verkehrs schon jetzt sehen. Die Intel-Tochter Mobileye bringt in Kooperation mit dem Autovermieter Sixt 2022 ein Robotaxi auf den Markt, das zunächst im Münchner Straßenverkehr fahren soll. Auch autonomes Parken soll bald möglich sein, Bosch und Mercedes-Benz stellten ein Konzept vor, das noch dieses Jahr genehmigt werden soll.

Nicht nur diese Beispiele zeigen, dass Deutschland beim autonomen Fahren Vorreiter ist. Bereits im Sommer hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, dass vollautomatisiertes Fahren erlaubt. Beim sogenannten Level-4-Fahren führen die technischen Systeme alle Fahraufgaben selbstständig durch. Derzeit werden diese Systeme im Öffentlichen Nahverkehr genutzt, wenn Shuttle-Busse auf festgelegten Strecken unterwegs sind.

Dennoch bleibt viel zu tun. Trotz der technischen Fortschritte sind Fragen wie etwa die Haftung weiterhin ungeklärt. Auch für Nachtfahrten, bei Nieselregen oder Nebel gibt es noch immer keine Lösungen. Bis zum vollautonomen Fahren könnten deswegen noch viele Jahre vergehen.

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Erstellt:
09.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 26sec
zuletzt aktualisiert: 09.09.2021, 06:00 Uhr

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