Oper · München

„Die Nase“ als Abrechnung Serebrennikovs mit dem Putin-Regime

In München inszeniert der Kreml-Kritiker Kirill Serebrennikov „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch als eine böse Abrechnung mit dem Putin-Regime.

26.10.2021

Von Jürgen Kanold

Politische Oper im Münchner Nationaltheater: Aufmarsch der Polizei-Nasen. Foto: Wilfried Hösl

Politische Oper im Münchner Nationaltheater: Aufmarsch der Polizei-Nasen. Foto: Wilfried Hösl

München. Mit starren Augen, tief verstört, schaut der Kreml-kritische Regisseur Kirill Sere­brennikov nach seiner Verhaftung durch Gitterstäbe – das Foto ging 2017 um die Welt, es dokumentierte die Willkür der Justiz in Putin-Russland. Jetzt steht ein solcher Käfig auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper: das Revier eines Polizeipostens. Milizionäre holen die Festgenommenen heraus und schneiden ihnen mit Messern die Nase ab.

Diese Menschen haben damit ihr Gesicht verloren und ihren Platz im System, sie sind gebrandmarkt – und können den ganzen Gestank von Korruption und Dreck nicht mehr riechen. Schauplatz ist das winterliche St. Petersburg, wo sich Schneemassen türmen, wo die Räumfahrzeuge kaum durchkommen, aber auch gerne Demonstranten wegschieben, wo Angler aus der Newa ab und an Leichenteile fischen. Eiskalt, dieses Land: erfroren jede Demokratie. Und dazu: theatralische bis höllische Klänge, herbe Atonalität, angetrieben in oft fiesem Rhythmus; ein Aufruhr im Orchester, monströse Schlagzeugbatterien, emotionalster Gesang. Und das knapp zwei Stunden lang.

Das ist doch mal ein Start in eine neue Zeit, in maximaler Distanz zur Kulinarik! „Ein Opernhaus ist kein Mausoleum! Und ich möchte nicht der Türsteher eines solchen sein!“, sagt Serge Dorny, der neue Intendant der Bayerischen Staatsoper, als müsste er verkrustete Publikumserwartungen mit Dynamit sprengen. Eine Gruft war das Haus auch unter Nikolaus Bachler nicht. Aber jetzt als erste Neuproduktion „Die Nase“, geschrieben vom jungen, furchtlos modernen Dmitri Schostakowitsch, 1930 uraufgeführt – und erstmals überhaupt im Nationaltheater zu erleben.

Das ist eine Ansage. Auch des neuen Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski, der viel vorhat abseits der Opernklassiker. Was freilich unverändert in München gilt: Die musikalische Qualität ist Weltklasse, die des hochkarätigen Ensembles wie die des Bayerischen Staatsorchesters. Und es gab dann auch am Sonntagabend großen Premierenapplaus – von einem, unbeabsichtigte Pointe, nasenlosen, weil Mundschutz tragenden Publikum.

Viel Beifall für eine ganze Riege exzellenter Sängerinnen und Sänger, darunter Boris Pinkhasovich als Kovaljov, Sergei Leiferkus als Ivan und Laura Aikin als ehrwürdige Dame. Und nicht zuletzt für Kirill Serebrennikov, der sich daheim in Moskau verbeugte, eingeblendet wurde per Video. Dass er nun ausgerechnet „Die Nase“ inszenierte, ist natürlich ein Politikum. Und der Regisseur und Filmemacher zeigt diese Oper auch so, mit realen Videoeinspielungen, als düstere Bestandsaufnahme der Lage in Russland unter Präsident Putin.

Eigentlich ist diese radikale frühe Schostakowitsch-Oper nach der gleichnamigen Erzählung Nikolai Gogols ja eine Farce, eine Gesellschaftssatire, absurdes Theater. Der angesehene Herr Kovaljov wacht eines Morgens auf und bemerkt, dass seine Nase weg ist, seit er beim Barbier war. Sie taucht in gebackenem Brot auf, spaziert überlebensgroß durch die Straßen von St. Petersburg, erregt Aufsehen. Irgendwann ist sie aber wieder da und Kovaljov (sehr verwandt mit Kafkas Herrn K.) kann als Mitglied der anständigen Gesellschaft weiterbestehen. Bei Serebrennikov aber ist gar nichts lustig. Seine Inszenierung kommt absolut humorfrei daher. Eiskalt eben, so, wie der Regisseur die Situation in Russland diagnostiziert. Und auch die eigentlich wild-experimentelle Musik Schostakowitschs tönt unter Jurowski eher deprimierend böse, wütend bis trauernd leise.

Die Staatsmacht prügelt, das von den Medien desinformierte Volk geht bestenfalls beten. Alle sind Täter oder Opfer. Wächst einem Pinocchio eine lange Nase, wenn er lügt, so zeichnen sich die Menschen bei Serebrennikov dadurch aus, dass ihnen viele Nasen wachsen: je mehr, desto mehr Reputation. Oder man hat gar keine mehr und ist verstoßen.

Das ist nun eben das Problem des braven Polizisten Kovaljov. Am Ende, bei der Heimkehr in die trostlose Plattenbausiedlung, wo sich manche aus Verzweiflung erhängen, kehren ihm die Nasen zurück. Ein Glückszustand? Wirklich nicht. Dunkle Streichquartettklänge: Mit einem lauten Knall platzt der rote Luftballon eines Mädchens.

Regie führen per Video-Schalte

Kirill Serebrennikov, 1969 in Rostow am Don geboren, feierte als Opernregisseur seinen ersten internationalen Erfolg mit der „Salome“ in Stuttgart. Bevor er dort „Hänsel und Gretel“ inszenieren konnte, wurde er im August 2017 in Moskau verhaftet. Er soll angeblich als Theaterleiter staatliche Subventionen veruntreut haben. Serebrennikov wurde mit Hausarrest belegt, 20 Monate trug er eine elektronische Fußfessel. In einem Schauprozess wurde der Künstler zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt – abgemildert zu einer Bewährungsstrafe von drei Jahren und einer Geldstrafe. Der Hausarrest ist aufgehoben, er darf Russland aber nicht verlassen. So inszeniert er per Videoschaltung.

Die Vorstellung der „Nase“ am 27. Oktober, 19 Uhr, wird live auf staatsoper.tv und BR-Klassik Konzert ausgestrahlt und ist im Radio auf BR-Klassik zu hören.

Kirill Serebrennikov darf Russland nicht verlassen.

Kirill Serebrennikov darf Russland nicht verlassen.

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Erstellt:
26.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 18sec
zuletzt aktualisiert: 26.10.2021, 06:00 Uhr

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