Tübingen · Weihnachtsspendenaktion

Eine neue Stelle für die Kinderintensivstation: Die Frau, die nicht wehtut

Rund jedes dritte Kind auf der Kinderintensivstation in Tübingen fällt in ein Delirium. Dagegen wollte die Klinik etwas tun – und hat ein neues Jobprofil geschaffen.

03.12.2022

Von Lisa Maria Sporrer

Nicht nur für die Patienten auf der Kinderintensivstation der Uniklinik ist Andrea Koch zuständig: Eben war sie noch bei der kleinen Enya, nun bespricht sich die Heilerziehungspflegerin Andrea Koch mit Judith und Ronnie Berzins, den Eltern des kleinen Loris. Bild: Anne Faden

Nicht nur für die Patienten auf der Kinderintensivstation der Uniklinik ist Andrea Koch zuständig: Eben war sie noch bei der kleinen Enya, nun bespricht sich die Heilerziehungspflegerin Andrea Koch mit Judith und Ronnie Berzins, den Eltern des kleinen Loris. Bild: Anne Faden

Als Andrea Koch den Handschuh von dem winzigen Händchen zog; als sie die kleinen Finger sanft streichelte; als sie die Bärchen-Spieluhr aufzog – da wurde Enya ruhiger. Enya ist erst etwas über ein Jahr alt. Sie liegt auf der Intensivstation der Kinderklinik. Mit einer Lungenentzündung. Die Handschuhe braucht sie, weil sie sich sonst die Schläuche aus der Nase ziehen würde. Und Beruhigung braucht sie auch deshalb, weil sonst der Sauerstoff, der ihr über die Nase zugeführt wird, sofort wieder aus dem weit aufgerissenen kleinen Mund entweichen würde.

Andrea Koch ist Heilerziehungspflegerin. Sie ist die Frau mit Zeit und Geduld auf der Intensivstation. Sie beruhigt Kinder, nimmt sie in den Arm, hört Musik mit ihnen, massiert sie, hüpft auf Gummibällen mit ihnen durch die Klinikzimmer. „Ich bin eben nicht die, die behandeln muss, die kurz ans Bett kommt, die Spritzen setzt. Die Kinder wissen: Ich bin die, die nicht wehtut“, sagt Andrea Koch. Und sie ist die, die damit viel abfangen kann. Die vielleicht ein Delirium verhindert.

Intensivstationen sind keine Orte, an denen man sich wohlfühlt: Laut, hektisch, grelles Licht. Ausgerechnet dort, wo die Körper kranker Menschen so gut überwacht werden, gerät ihr Gehirn in Gefahr. Ärzte sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Intensiv-Delir“. Ein Delir ist bei Patienten, die auf Intensivstationen mit dem Leben ringen, nicht selten. Bei älteren Patienten ist das Delir mittlerweile Gegenstand der Forschung, bei Kindern wird es noch zu sehr vernachlässigt. Dabei ist es auch auf Kinderintensivstationen nicht selten. Die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Tübingen hat im vergangenen Jahr rund 11.600 Patienten stationär aufgenommen. Davon wurden 844 Kinder auf der Intensivstation behandelt, und von diesen 844 Kindern war fast jedes dritte von einem Delir betroffen.

Die Symptome reichen von leichter Verwirrtheit bis zu ausgeprägten Denk- und Gedächtnisstörungen, Halluzinationen, Orientierungslosigkeit. Einige Kinder werden im Delir lethargisch, andere hyperaktiv. Und das ist keineswegs eine dieser lästigen, aber letztlich ungefährlichen Nebenwirkungen, wie sie ein Krankenhausaufenthalt eben mit sich bringt. Sondern ein gefährlicher Zustand, der bei Kindern nach ihrer Entlassung auch zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen kann. „Ein Delir ist eine Funktionsstörung bis hin zum Organversagen des Gehirns“, sagt die Tübinger Ärztin Juliane Engel. Was genau bei einem Delir mit dem Gehirn von Patienten passiert, versuchen Ärzte noch zu verstehen. Wahrscheinlich ist, dass die Neurotransmitter im Gehirn aus der Balance geraten. „Was man weiß, ist“, sagt Engel, „dass es multifaktoriell ist.“ Als eine dieser zahlreichen möglichen Ursachen wurde bisher eine übermäßige Medikamenteneinnahme ausgemacht. Bestimmte Sedativa, also beruhigende Medikamente, werden deshalb auf der Kinderintensivstation nur noch sehr selten eingesetzt.

Andrea Koch hat Zeit für ihre Schützlinge auf der Kinderintensivstation. Bild: Anne Faden

Andrea Koch hat Zeit für ihre Schützlinge auf der Kinderintensivstation. Bild: Anne Faden

Außerdem untersucht die Kinderklinik seit 2016 das Auftreten des Delirs anhand von routinemäßigen Screenings. Anfang 2017 führte das Ärzteteam sogenannte Delir-Bundles ein – das sind verschiedene nicht-medikamentöse Maßnahmen, die den Kindern helfen sollen, den Delir-Zustand möglichst rasch zu überwinden. Im April 2018 konnten schließlich über Spendengelder zwei Heilerziehungspflegerinnen eingestellt werden. Mittlerweile arbeitet die Klinik auch mit dem SOS-PD-Score, mit dem Kinder nach Herzfrequenz oder Schlafstörungen untersucht werden können, und der anhand von verschiedenen Parametern eine zuverlässige Diagnose abgibt, ob ein Delir vorliegt.

„Das Intensiv-Delir gab es schon immer“, sagt Birgit Brenner. Seit knapp 30 Jahren arbeitet sie im Kinderbereich der Klinik, mittlerweile als Pflegeleitung auf der Kinderintensivstation. „Früher hat man das nur nicht so genannt und deshalb auch oft nicht erkannt. Da dachte man, die Kinder müssen halt ihre Medikamente ausschlafen.“ Es gibt aber nicht nur das „stille Delir“, sondern auch das „hyperaktive Delir“. Kinder, die panisch und verwirrt rufen, schreien, Panik bekommen.

„Das fordert ein Team ziemlich. Das kann die Pflege nicht leisten“, sagt Birgit Brenner, die zusammen mit dem Kinderintensivmediziner Felix Neunhoeffer, die Stiftung „Hilfe für kranke Kinder“ um Finanzierung der Heilerziehungsspflegerinnen bat. Seit 2018 hat die Stiftung in der Uni-Kinderklinik Tübingen das Projekt mit bereits rund 240 000 Euro an Spenden unterstützt. Denn in den Vergütungspauschalen der Krankenkassen sind die Leistungen der Heilerziehungspflegerinnen bisher nicht abgebildet. Das heißt: Die aktuell 1,45 Stellen lassen sich nur über Spenden finanzieren.

Weil es aber gegen das Delir keine Medizin, sondern allein Maßnahmen gibt, sind die beiden Stellen von Andrea Koch und Susy Hinderberger so wichtig, sagt die Ärztin Juliane Engel. Nicht nur für die Kinder. Auch für deren Eltern. Denn die Heilerziehungspflegerinnen vermitteln zwischen den Eltern und ihren Kindern. „Eine Intensivstation ist ohnehin eine Ausnahmesituation“, sagt Andrea Koch. „Und wenn Eltern ihre Kinder dann noch im Delir erleben, wird es noch schwieriger, damit umzugehen.“ Wenn die Kinder ihre Eltern nicht mehr erkennen, wenn die Kinder verwirrt sind. Oder andersrum: Wenn die Eltern ihre Kinder nicht mehr so wahrnehmen, wie sie sie kennen. Auch dafür braucht es Vermittlerinnen und auch Begleiterinnen. Personen wie Andrea Koch.

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Erstellt:
03.12.2022, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 59sec
zuletzt aktualisiert: 03.12.2022, 01:00 Uhr

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