Die Bahn pfeift, weil sie pfeifen muss

Auch wenn das Warnsignal laut ist und Bewohner stört: Der Zugführer hat keinen Ermessensspielraum

Das kurze, aber laute Warnsignal heranfahrender Züge stört manche Anwohner in den Wohngebieten südlich des DHL-Geländes. Das Warnsignal sei Pflicht, sagt die Bahn.

12.03.2016

Von Gert Fleischer

Zwei Fotos zeigen eine typische Gefahrensituation am Bahnübergang oberhalb der Rottenburger Ziegelhütte. Die weißhaarige Frau überquert das Gleis, obwohl der heranfahrende Zug schon zu sehen ist. Die beiden Männer sind vorsichtiger, beachteten das Warnsignal und blieben im Umlaufgitter zurück. Bild: Fleischer

Zwei Fotos zeigen eine typische Gefahrensituation am Bahnübergang oberhalb der Rottenburger Ziegelhütte. Die weißhaarige Frau überquert das Gleis, obwohl der heranfahrende Zug schon zu sehen ist. Die beiden Männer sind vorsichtiger, beachteten das Warnsignal und blieben im Umlaufgitter zurück. Bild: Fleischer

Rottenburg. Jeden Tag 26 Mal töne das Signalhorn der Züge, wenn sie aus Tübingen kommend das ehemalige DHL-Gelände erreichen. Denn dann sehen die Zugführer das weiß-rot lackierte Sperr- oder Umlaufgitter des unbeschrankten Gleisübergangs für Fußgänger. In der Früh gehe das schon vor 6 Uhr los, und abends töne das Warnsignal bis eine halbe Stunde vor Mitternacht, klagt beispielsweise Ewald Saile.

„Wahnsinnig laut“ sei das, obwohl er 350 Meter entfernt in der Klausenstraße wohnt. Wenn Leute an oder auf dem Gleis seien, sei das Hupen ja nachvollziehbar, aber dass jeder Zug bei jeder Einfahrt so ein Getöse machen muss, könne er sich nicht vorstellen, sagte Saile. In der anderen Fahrtrichtung werde doch auch nicht gehupt. Im Straßenverkehr schauten die Menschen nach links und nach rechts, bevor sie die Fahrbahn überqueren; wer über ein Gleis geht, verhalte sich kaum anders. Insofern sei das generelle Tuten – im Bahnjargon: Pfeifen – überflüssig und unnötig störend.

Saile hat die Lautstärke gemessen, sagt er. Bei geschlossenem, doppelverglasten Fenster habe das Gerät 45 bis 47 Dezibel (A) angezeigt, außerhalb des Fensters 68 bis 70 db (A). Das sind mittlere Lärmpegel, die allerdings schon gesundheitlich belastend sein können – freilich bei länger andauerndem Einwirken. Bei einem Warnsignal der Eisenbahn geht es üblicherweise nur um ein Geräusch von ein bis zwei Sekunden.

Saile wohnt schon länger an der Klausenstraße. Dass ihn der Lärm nun so massiv stört, liegt vermutlich am kürzlich vollzogenen Abbruch der Gebäude des früheren Fernmeldezeugamts. Zwar war die Luftlinie zwischen dem Überweg und der Wohnsiedlung schon vorher unverbaut, aber die Zugführer müssen ja ein ganzes Stück vorher das Signalhorn auslösen. Da die Gebäude als schallabwehrende Barriere nun fehlen, nehmen Saile und andere Bewohner das Warnsignal plötzlich so belästigend wahr. Vermutlich müssen sie sich gedulden, bis das Areal wieder bebaut ist – ob mit Wohnungen, einem Einkaufszentrum oder beidem. Denn die Bahn verbreitet keine Hoffnung, dass das Warnsignal feiner dosiert werden könnte.

Der Lokführer habe keinen eigenen Ermessensspielraum, sagt ein Sprecher der Bahn AG im Regionalbüro Kommunikation Stuttgart. Auf freier Strecke müsse gewarnt werden, selbst wenn der unbeschrankte Bahnübergang mit Lichtzeichen geregelt ist. Deshalb könne es nicht stimmen, dass erst seit kurzem akustisch gewarnt werde. Er habe, sagte der Mann von der Pressestelle, mit den Kollegen vor Ort gesprochen, die ihm dies bestätigten.

Die Bahn hat eine kaum überschaubare Fülle an differenzierten Vorschriften und Arbeitsanweisungen. An Fuß- und Radwegen, die über Gleise führen, genügen Umlaufsperren oder Umlaufgitter, wie sie in Rottenburg oberhalb der Ziegelhütte zu sehen sind. Auch Drehkreuze oder ähnlich wirkende Einrichtungen sind möglich. Diese Sperreinrichtungen müssen den kreuzenden Fuß- oder Radweg so unterbrechen, dass das Gleis nicht leichthin überquert werden kann. Bei freier Strecke sollten sie aber die Durchfahrt von Fahrrädern mit Anhängern erlauben.

Den Vergleich mit einer Straße, bei dem sich die Überquerenden durch Links- und Rechtsschauen sichern, ließ der Bahnsprecher nicht gelten. Wegen der geringeren Haftreibung der Räder und der größeren bewegten Masse benötige ein Schienenfahrzeug einen bedeutend längeren Bremsweg als ein Straßenfahrzeug. Und laut sollte so ein Warnsignal auch sein: „Sonst ist es ja kein Warnsignal“, sagte der Bahnsprecher.

Das zweite Bild, Sekunden später aufgenommen, zeigt, wie schnell der Zug kommt. Wäre die Frau auf dem Gleis gestolpert, hätte sie ihr spontaner Entschluss wahrscheinlich das Leben gekostet. Bild: Fleischer

Das zweite Bild, Sekunden später aufgenommen, zeigt, wie schnell der Zug kommt. Wäre die Frau auf dem Gleis gestolpert, hätte sie ihr spontaner Entschluss wahrscheinlich das Leben gekostet. Bild: Fleischer

Ein paar Beispiele für Lärmentwicklung

40 bis 60 Dezibel (A) ist normale Gesprächslautstärke oder ein leises Radio. Das reicht, um die Konzentration zu stören. 60 bis 80 dB (A) erzeugen eine Schreibmaschine oder ein vorbeifahrendes Auto. Um 80 dB (A) liegen etwa Rasenmäher: Lärm in dieser Lautstärke kann zu gesundheitlichen Langzeitschäden führen. 80 bis 100 dB (A) erreichen vorbeifahrende Lastwagen, Motorsägen oder Winkelschleifer. Bei Dauerlärm droht Gehörschaden. Bei 110 dB (A) ist die Schmerzgrenze erreicht: Kreissägen und Presslufthämmer erreichen diesen Schallpegel, aber auch der Lärm in Diskotheken oder am Ohrstöpsel von MP3-Playern. Mehr als 120 dB (A) erzeugen startende Düsenflugzeuge, Explosionen und auch manches Rockkonzert.

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Erstellt:
12.03.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 00sec
zuletzt aktualisiert: 12.03.2016, 01:00 Uhr

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