Rottenburg · Nachruf

Nachruf auf Ursula Kuttler-Merz: Kämpferin mit unschätzbarem Vermächtnis

Ursula Kuttler-Merz, Heimatforscherin und TAGBLATT-Autorin, ist im Alter von 85 Jahren tödlich verunglückt. Ihre Sammlung an Geschichten aus dem alten Rottenburg ist einzigartig.

10.01.2023

Von Angelika Bachmann

In ihrem Metier: Ursula Kuttler-Merz (hier im Stadtarchiv) durchkämmte Kataster, Kirchbücher und Korrespondenzen. Bild: Wolfgang Albers

In ihrem Metier: Ursula Kuttler-Merz (hier im Stadtarchiv) durchkämmte Kataster, Kirchbücher und Korrespondenzen. Bild: Wolfgang Albers

Es war bei der letzten Bürgerversammlung in der Rottenburger Festhalle. Da trat Ursula Kuttler-Merz ans Mikrofon – das natürlich viel zu hoch eingestellt war für sie, die gerade mal 1,60 Meter groß war. Sie nestelte das Mikro in erreichbare Höhe – und legte los. Aber hoppla! Da nahm jemand kein Blatt vor den Mund und sagte, geradeaus, seine Meinung. Es ging damals ums Baugebiet Oberes Feld. Genauso gut hätte es das Gerberviertel sein können, das Schänzle oder der anstehende Neubau der Kreuzerfeldturnhalle: Wenn es um Rottenburg ging, um das Stadtbild, die Stadtgeschichte und die Stadtentwicklung, hatte Ursula Kuttler-Merz keine Manschetten. Samthandschuhe gehörten ohnehin nicht zu ihrer Garderobe.

In der Schule war Heimatgeschichte ihr liebstes Fach. Diese hat sie, wenn schon nicht zu ihrem Beruf, dann doch zu ihrer Berufung gemacht. Ihre „Geschichten aus dem alten Rottenburg“, die sie über Jahrzehnte hinweg im SCHWÄBISCHEN TAGBLATT und in fünf Bänden im Verlag am Nepomuk veröffentlichte, sind ein unschätzbares Vermächtnis an ihre Heimatstadt.

Prunk und Armut

Dabei ist Ursula Kuttler-Merz gar nicht hier geboren. Sie kam 1937 in einem Stuttgarter Vorort zur Welt. 1943 flohen ihre Eltern vor den Bombennächten in der württembergischen Hauptstadt nach Rottenburg. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich noch an den ersten Tag in Rottenburg: Während ihr Vater sich im Rathaus um die Anmeldeformalitäten kümmerte, saß die kleine Ursula neben einem „Hondsbronzer“ am Marktplatz, wie sie oft erzählte, und schaute sich um. Das Mädchen aus der Großstadt war fasziniert von den Heiligenstatuen an den Fassaden – und den Misthaufen vor den Häusern.

Katholischer Prunk, bittere Armut. Die kargen Kriegs- und Nachkriegsjahre prägten sie. Impften ihr den Pragmatismus einer Generation ein, der die goldenen Löffel nicht in die Wiege gelegt wurden. Schweinswürste hingen in den Schaufenstern der Metzgereien, zu Hause gab es oft nur Hafergrütze. Dass sie selbst ein Kriegskind war, gab ihren Geschichten über diese Zeit immer eine besondere Tiefe. Für manche Probleme der heutigen Zeit hatte sie indes nur ein leicht genervtes Lächeln übrig. Vieles erschien ihr als wohlstandsvergessene Wehleidigkeit.

Schon als junges Mädchen hatte Kuttler-Merz sich eine Kamera gekauft und dokumentierte, was sie sah und erlebte, mit Neugier und außergewöhnlicher Beobachtungsgabe. So entstand im Laufe der Zeit eine Foto-Sammlung, die – für damalige Zeiten durchaus ungewöhnlich – Alltagsleben bewahrte. Wunderbare Illustrationen für die Geschichten, die sie später schrieb: Pfadfinderinnen auf dem (noch lange nicht asphaltierten) Weg zum Schadenweiler hoch, ein Schwätzchen unter Nachbarn vor einem Ladengeschäft, das mittlerweile längst geschlossen ist. Und Mädchen mit Bademützen, die bei Bad Niedernau im Neckar die Beine übers Wehr baumeln ließen. Und sicher hüpfte sie, nachdem sie das Bild gemacht hatte, selbst ins Wasser.

Menschen hinter Jahreszahlen

Ihren Mann Walter Kuttler lernte sie bei Hüller Hille kennen, wo beide arbeiteten, er als Elektroingenieur, sie als Industriekauffrau. Sie heirateten 1971. Im Jahr 1973 kam Tochter Christina zur Welt. Anfangs war die Oma Kindsmagd. 1975 hängte Kuttler-Merz jedoch ihren Beruf an den Nagel und die heimatgeschichtliche Forschung nahm immer mehr Raum in ihrem Leben ein. Ihre Freizeit verbrachte sie mit Vorliebe in Archiven, führte unzählige Gespräche mit Zeitzeugen und schuf ein einzigartiges Archiv an Erinnerungen.

Natürlich kannte Kuttler-Merz auch die Herrschaftsgeschichte der Hohenberger aus dem Effeff. Sie konnte Chroniken und Stammbäume ohne auch nur nachzudenken aus dem Gedächtnis abrufen. Doch immer suchte sie die Menschen hinter den Jahreszahlen. So entstanden Portraits von Rottenburgern, die es sonst in kein Geschichtsbuch geschafft hätten – wie etwa vom bettelarmen Schnitzer der Weggentalkrippe, Leopold Lazaro, oder vom Hausarzt und Geburtshelfer Erwin Hahn, der mit dem Pferdefuhrwerk zu den Patienten unterwegs war.

Diese Geschichten erzählte sie in unnachahmlichem Stil, unsentimental und doch mit Anteilnahme, auf der Grundlage akribischer Archivrecherchen und gleichzeitig so plastisch, als wäre sie dabei gewesen: „Als Josef Schneider am 4. Februar 1893 morgens um zehn Uhr – als viertes von fünf Geschwistern – in Rottenburg geboren wurde, gab das schwächliche Kind keinen Anlass zu großer Hoffnung. Eine Nachbarin eröffnete der Mutter, sie bleibe jetzt noch so lange bei ihr, ,bis des Buale stirbt‘, nahm ihr Strickzeug und ließ die Nadeln klappern. Doch das ,Josefle‘ ließ sich Zeit mit dem Jenseits.“

2022 feierten Walter und Ursula Kuttler-Merz goldene Hochzeit, wegen Corona ohne Fest, mit einem Ausflug nach Haigerloch. Bild: Christina Kuttler

2022 feierten Walter und Ursula Kuttler-Merz goldene Hochzeit, wegen Corona ohne Fest, mit einem Ausflug nach Haigerloch. Bild: Christina Kuttler

Warum Kuttler-Merz, die mit solcher Begabung Geschichte beschrieb, nicht selbst Historikerin wurde, sondern bei den Tübinger Montanwerken eine Ausbildung zur Industriekauffrau machte? Nun, das war halt damals so, würde sie jetzt sagen. Ihr Vater starb, als sie 13 Jahre alt war. Das Abitur machte Kuttler-Merz an einer Schule in Reutlingen – weil man in der SPD-regierten Stadt kein Schulgeld zahlen musste. Fürs Studium fehlte schlichtweg das Geld.

Dass die Rottenburger Geschichte nicht nur auf dem Papier überlebt, sondern dass, was in der Stadt noch sichtbar ist, erhalten bleibt, gepflegt und geschätzt wird, war ihr ein Herzensanliegen und ihr Lebensinhalt. Wo soll man anfangen? Beim Bellino-Haus an der Reiserstraße vielleicht? Beim Sulzauer Hof, der Stadtmauer, den historischen Portalen alter Ladengeschäfte? Dem alten Diözesan-Garten, der für den Busbahnhof am Eugen-Bolz-Platz platt gemacht wurde? Mit Veränderungen tat sie sich schwer. Das gilt nicht nur für Gebäude. Auch über den Baumbestand in der Stadt wachte sie mit Argusaugen. Ihre Liebe zur Natur schlug sich in Beschreibungen von blauregengeschmückten Fassaden, Würdigungen von Gärten und Ausflugstipps in die Region wieder – wo man immer wieder Ausflüglern mit den Touren-Beschreibungen von Kuttler-Merz im TAGBLATT begegnete.

Mit Schildkäppi auf Streifzug

Welche Freude sie darüber empfand, in einer Stadt mit so reichen historischen Zeugnissen zu leben, durften die Teilnehmer ihrer Stadtführungen erleben. Angesichts so mancher stadtplanerischer Modernisierungs-Offensive lief Kuttler-Merz zu Höchstform auf und tat, auf gut schwäbisch, auch mal dem Gemeinderat samt den (Ober-) Bürgermeistern „da Roschd ra“. So war sie: streitbar, engagiert, unermüdlich und unbequem, eine Kämpferin, die dafür auch oft einstecken musste. Das feuerte sie erst recht an. Oder, wie sie kürzlich sagte: „Ich bin nicht auf der Welt, um beliebt zu sein.“

Seit 1969 engagierte sie sich im Sülchgauer Altertumsverein, von Kindesbeinen an bei den christlichen Pfadfindern und in der evangelischen Kirchengemeinde. Für ihre Verdienste um die Heimatgeschichte erhielt sie die Medaille der Stadt Rottenburg und 2016 das Bundesverdienstkreuz. Der schönste Lohn für Kuttler-Merz war jedoch: wenn sie wieder einen Fund machte. Was für ein Erlebnis, mit ihr auf Streifzug zu sein, wie jüngst im Haus des einstigen Fuhrunternehmens Saile, als dieses vor dem Abbruch ausgeräumt wurde. Mit Kapuzenpulli, Schildkäppi und in Turnschuhen, wie immer die Kamera dabei, mühte sie sich die Stiegen bis unters Dach hoch, studierte die Schulhefte des Fuhrmanns-Enkels (und heutigen Verkehrsministers) Winfried Hermann und freute sich diebisch, als sie eine Zinkwanne entdeckte: „Davon gibt’s ein Bild, auf dem der Winfried als Baby in der Wanne badet!“

Mit ihren 85 Jahren war Ursula Kuttler-Merz immer noch ein Energiebündel. Sie steckte voller Ideen und Tatendrang. Der fünfte Band ihrer Rottenburger Geschichten ist gerade erst erschienen, da arbeitete sie schon am sechsten, unermüdlich, trotz zahlloser chronischer Krankheiten, die den Körper mürbe machten. „Vom Kopf an abwärts sieht’s nemme so guat aus“, sagte sie dann oft. „Aber Hauptsache, dr’ Kopf funktioniert no’.“

Viele Geschichten werden ungeschrieben bleiben.

Am 29. Dezember verunglückten Ursula Kuttler-Merz und ihr Mann Walter bei einem Autounfall auf dem Weg ins Allgäu, wo sie, wie immer zwischen den Jahren, ein paar ruhige Tage verbringen wollten. Walter Kuttler starb noch am Unfallort. Er wurde 84 Jahre alt. Ursula Kuttler-Merz starb am 8. Januar an den Folgen der schweren Verletzungen.

Die Beisetzung von Ursula Kuttler-Merz und Walter Kuttler ist am Montag, 16. Januar, um 13.30 Uhr auf dem Klausenfriedhof.

Stadtführerin und „das Gedächtnis Rottenburgs“

Mit Bestürzung und großer Anteilnahme wurde die Nachricht vom Tod des Ehepaars Kuttler-Merz in der Stadt aufgenommen.

„Ich bin erschüttert über den tragischen Unfall, bei welchem das Ehepaar Kuttler-Merz gestorben ist“, sagte Oberbürgermeister Stephan Neher. „Frau Kuttler-Merz hat als Stadtführerin und Autorin viele in unserer Stadt für geschichtliche Themen begeistert und Heimatgeschichte für uns und spätere Generationen recherchiert und dokumentiert. Sie hat sich immer für ihre Anliegen eingesetzt und auch so manchmal die Stadtverwaltung gefordert, dies aber immer in einem guten und freundlichen Umgang. Wir trauern um eine verdiente Mitbürgerin, die uns allen sehr fehlen wird.“

Auch im Sülchgauer Altertumsverein, wo Kuttler-Merz Ehrenmitglied war, ist man erschüttert über den „unersetzlichen Verlust“ (Stadtarchivar Peter Ehrmann). Vereinsvorsitzende Dorothee Ade sagte: „Für mich war sie das Gedächtnis der jüngeren Geschichte von Rottenburg. Was sie alles wusste! Und was sie sich gemerkt hat!“ Kuttler-Merz hatte ein „unglaubliches Netzwerk“, immer fiel ihr noch ein, welchen Zeitzeugen sie zu welchem Thema befragen konnte. „Und sie blieb immer dran, kam zum Ziel und hat die Informationen bekommen. Sie war vielseitig interessiert. Und wie sie das alles geschafft hat, trotz ihrer vielen Erkrankungen, habe ich immer bewundert“, sagte Ade.

Im Martinihaus haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine brennende Kerze an den Platz gestellt, an dem das Ehepaar Kuttler-Merz oft beim Mittagstisch saß.

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Erstellt:
10.01.2023, 16:23 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 43sec
zuletzt aktualisiert: 10.01.2023, 16:23 Uhr

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