Medizin

Zwei Intensivpflegekräfte erzählen: Darum habe ich meinen Job gekündigt

Sie wurden im Frühjahr 2020 beklatscht, geändert hat sich ihren harten Arbeitsbedingungen aber wenig: Zwei Intensivpflegekräfte berichten, warum sie ihren Job gekündigt haben.

26.11.2021

Von David Nau

Viel Verantwortung, schlechte Arbeitszeiten: Immer mehr Intensivpflegekräfte kündigen ihre Jobs oder reduzieren die Arbeitszeit. Foto: Marijan Murat/dpa

Viel Verantwortung, schlechte Arbeitszeiten: Immer mehr Intensivpflegekräfte kündigen ihre Jobs oder reduzieren die Arbeitszeit. Foto: Marijan Murat/dpa

Wenn Marcel Harder davon erzählt, was er in den vergangenen 20 Jahren auf verschiedenen Intensivstationen erlebt hat, wird klar, warum die Intensivpflege ein Nachwuchsproblem hat. Als Beispiel nennt er eine Situation vor einigen Jahren – in welcher Klinik sie stattgefunden hat, will er nicht sagen: „Im Nachtdienst kam eine Patientin mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma auf unsere Intensivstation. Bei der Untersuchung habe ich festgestellt, dass die Pupillen der Frau unterschiedlich groß sind. Das kann ein Zeichen für eine Hirnblutung sein“, erklärt der 43-Jährige.

Anstrengender Schichtdienst

Er habe den diensthabenden Arzt angerufen und ihm die Situation geschildert. „Der hat mich gefragt: Was soll ich denn da jetzt machen?“, erzählt Harder und man meint, sogar durchs Telefon hindurch sein Kopfschütteln hören zu können. Er habe den Arzt dann „nötigen müssen“, die Frau zu intubieren und zum CT zu bringen. Dort habe man eine schwere Hirnblutung festgestellt. „Wir haben die Frau dann schnell verlegt, und es ging gottseidank alles gut aus.“

Nicht die einzige negative Erfahrung, die Harder, der bis vor zwei Jahren in mehreren Tübinger Kliniken als Intensivpfleger arbeitete, erlebt hat: „Ich hätte noch Dutzende weitere Geschichten zu erzählen.“ Von Oberärzten, die sich nachts weigerten, in die Klinik zu kommen, obwohl der diensthabende Assistenzarzt darum bettelte, oder von Reanimationen, bei denen sich niemand zuständig fühlte – kurzum, Geschichten, die man nicht hofft, aus dem deutschen Gesundheitssystem hören zu müssen.

„Man lernt, mit so etwas umzugehen, aber man vergisst es nicht“, sagt Marcel Harder. Ende 2019 war das Maß voll. „Ich habe mir die Frage gestellt, ob ich diesen Beruf bis 67 durchhalten kann. Und die ehrliche Antwort war, dass ich das nicht durchhalte.“ Nach einem anstrengenden Nachtdienst recherchierte er deswegen im Internet und sah, dass ein ehemaliger Kollege jetzt bei einer Krankenkasse arbeitet. Auf der Internetseite der AOK habe er eine Stellenanzeige gesehen und sich einfach mal beworben. Jetzt organisiert der Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivpflege für die AOK Baden-Württemberg in Hechingen, wo er auch wohnt, häusliche Intensivpflege für deren Versicherte. „Der neue Job ist für mich wie ein Sechser im Lotto: Ich habe Gleitzeit, muss nicht mehr fahren und habe ein tolles Team um mich herum.“

Vor allem die neuen Arbeitszeiten sind für Harder ein absoluter Gewinn. „Ich habe den Job auf der Intensivstation immer geliebt, und ich vermisse heute die Arbeit am Patienten“, sagt er. Was er nicht vermisst, sind allerdings die Umstände, mit denen er Jahrzehnte konfrontiert war: „Der Schichtdienst ist eine große Belastung, je älter man wird. Die Nachtdienste waren am Ende körperlich super anstrengend.“ Zudem habe er regelmäßig ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Familie gehabt. „Man musste immer alles langfristig planen, spontane Aktionen waren selten möglich“, erzählt er.

Erschöpft nach dem Dienst

Das hat auch Miriam Winkler so erlebt. Die 38-Jährige arbeitete gut zehn Jahre auf einer Intensivstation an einem Uniklinikum in Baden-Württemberg und kündigte ihren Job Ende September 2021. Ihren richtigen Namen will sie nicht öffentlich nennen, auch nicht ihren ehemaligen Arbeitgeber – aus Sorge um ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen: „Dann hat die Klinik noch größere Schwierigkeiten, Personal zu finden. Die einzelnen Kliniken können aber nicht viel für die Zustände. Das Problem ist das System“, sagt Winkler.

Der viele Stress auf der Arbeit wirkte sich auch auf ihre Familie aus: Nach dem Frühdienst musste sie ihre Kinder aus der Kita abholen, war aber selbst komplett erschöpft. „Ich habe die Kinder dann oft nur noch vor dem Fernseher parken können“, erzählt sie. Zugleich seien die Bedingungen auf den Stationen immer schlechter geworden. „Am Ende war das nicht mehr zu ertragen.“ Immer mehr Patienten seien immer schneller durch die Station geschleust worden, immer größer wurde auch der Organisationsaufwand drumherum: „Ständig Aufnahmen, Verlegungen, Notfälle – da kommt es auch zu Fehlern, die Qualität leidet“, sagt Winkler. Das habe ihr die Entscheidung, den Job zu kündigen, erleichert. Jetzt arbeitet die 38-Jährige als Berufsschullehrerin und bildet Pflegekräfte aus.

Mit der Entscheidung, den Job hinzuschmeißen, sind Marcel Harder und Miriam Winkler nicht allein. Eine Umfrage im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft zeigt, dass die Zahl der Intensivpflegekräfte in Deutschland angesichts der Corona-Pandemie weiter gesunken ist. Demnach haben 72 Prozent der befragten Krankenhäuser weniger Personal für die Intensivstationen zur Verfügung als noch Ende 2020. 86 Prozent der Kliniken können ihre Intensivbetten mangels Personal nicht vollständig betreiben.

Jetzt sollen Intensivpflegekräfte nochmals eine Corona-Prämie bekommen, die Ampel-Koalition will dafür eine Milliarde Euro bereitstellen. Für Marcel Harder ist das der falsche Weg: „Man kann nicht einfach alles mit Geld zukleistern.“ Ihm fehlt in der Debatte, wie man den Job attraktiver gestaltet, die Kreativität. „Wir müssen auch über andere Arbeitszeitmodelle diskutieren. In anderen Ländern müssen beispielsweise Kollegen über 50 keine Nachtdienste mehr machen.“ Besonders zuversichtlich, dass sich bald etwas ändert, ist er nicht. „In der ersten Welle haben uns alle applaudiert, inzwischen wird die Lage offenbar als gottgegeben hingenommen“, sagt er.

Zuversichtlicher ist dagegen offenbar Harders Sohn. Der absolviert gerade einen Freiwilligendienst auf der Intensivstation, auf der der Vater vor einiger Zeit gekündigt hat. Kürzlich offenbarte er, dass er sich vorstellen könnte, Krankenpfleger zu werden. „Da ist mir erstmal die Kinnlade runtergefallen“, sagt Harder. Er werde seinen Sohn natürlich unterstützen. „Ich habe ihm aber auch gesagt: Überleg’ dir das sehr gut!“

72 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland haben einer Umfrage zufolge weniger Personal für die Intensivstationen zur Verfügung als noch Ende 2020. Fast alle Kliniken können deswegen nicht mehr alle Intensivbetten betreiben.

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Erstellt:
26.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 54sec
zuletzt aktualisiert: 26.11.2021, 06:00 Uhr

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