Tübingen · CineLatino

Zitterpartie und Hoffnungsschimmer

Auch wenn jetzt alle bereit wären: Das Tübinger Festival des lateinamerikanischen und spanischen Films kann coronabedingt nicht heute Abend starten, sondern muss erst noch abwarten.

21.04.2020

Von Dorothee Hermann

Unter den Bedingungen der Diktatur ist alles verdächtig, auch diese Krawattenträger im Thriller „Rojo“ aus Argentinien.Bild: CineLatino

Unter den Bedingungen der Diktatur ist alles verdächtig, auch diese Krawattenträger im Thriller „Rojo“ aus Argentinien.Bild: CineLatino

Ein Spritzer lateinamerikanischen Temperaments hätte coronabedingte Verstimmungen wunderbar auflockern können. Doch wer sich in diesen Tagen auf die 27. Ausgabe des CineLatino gefreut hatte, muss nun ganz stark sein. Das Festival muss abwarten, weil das Virus Orte wie Kinos besonders im Visier hat: viele Menschen, dicht gedrängt in einem geschlossenen Raum. Dabei wäre alles bereit: Spielpläne, Programmhefte, Plakate und Flyer. „Wenn wir starten können, muss der Graphiker nur die Termine ändern“, sagte Festivalleiter Paulo de Carvalho dem TAGBLATT. „Es ist eine Zitterpartie. Können wir loslegen oder nicht? Aber wir behalten die Ruhe.“ Vorerst ist ganz klar: „Die Gesundheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Festivalgästen und Zuschauern hat Priorität.“

Heute Abend sollte der argentinische Thriller „Rojo – Wenn alle schweigen, ist keiner unschuldig“ das CineLatino eröffnen. Der mehrfach preisgekrönte Film von Benjamin Naishtat spielt 1975, in der Zeit unmittelbar vor dem Militärputsch in Argentinien. In einer Kleinstadt wird ein angesehener Rechtsanwalt von einem Fremden angesprochen. Es kommt zum Streit und schließlich zu einem Todesfall. Doch alles versinkt im Schweigen, bis ein bekannter Fernsehdetektiv auftaucht und anfängt, Fragen zu stellen. „Auf einmal ist da die bedrückende Atmosphäre der Diktatur: Alles kann verdächtig sein“, sagte der Festivalleiter. Im Mai wäre der Film regulär in den Kinos gestartet. „Das ist alles verschoben.“

Der diesjährige Schwerpunkt Mittelamerika stellt mit gleich neun Ländern eine ganze Weltregion vor. Denn kleinere Länder wie Nicaragua oder El Salvador bringen meist nur einzelne Filme heraus oder jedenfalls nicht so viele auf einmal, dass es für einen eigenen Länderschwerpunkt reichen würde. Dafür sind Dauerbrenner wie Kuba und Mexiko auch diesmal mit dabei, etwa mit „Los Lobos“ (Die Wölfe) von Samuel Kishi Leopo über den achtjährigen Max und seinen kleinen Bruder Leo, die vor kurzem mit ihrer Mutter in die USA eingewandert sind.

Nicaragua ist derzeit eines der wenigen Länder, die Schutzmaßnahmen gegen Corona ablehnen, sagte de Carvalho. Drei Filme von dort stellen die schwierige Gegenwart der bewegten Vergangenheit gegenüber und fragen beispielsweise aus der Perspektive der Nachfahren, wie es war, Revolution zu machen. Das mündet auch in eine Kritik an der aktuellen Regierung, die ja einmal angetreten war, alles anders und gerechter zu machen. Das Drama „Nuestra Madres“ (Unsere Mütter) von César Díaz holte 2019 in Cannes die begehrte Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm. Im Mittelpunkt steht der junge Forensiker Ernesto. Er hilft, Menschen zu identifizieren, die in Guatemala während der 30 Jahre Bürgerkrieg verschwunden sind. Eines Tages glaubt er, eine Spur seines Vaters gefunden zu haben, der als Guerillakämpfer ebenfalls unter den Verschollenen war.

Das Festival hat auch ein Auge auf Frauen in der Filmbranche und hat Karolina Hernandez eingeladen, Produzentin von „Días de Luz“ (Tage des Lichts). Der Episodenfilm in sechs kleinen Geschichten spielt während eines gigantischen Stromausfalls in ganz Mittelamerika: In Panama sitzen eine reiche ältere Dame und ihr Hausmädchen in einem Hochhaus fest. In Costa Rica nutzen ein evangelikaler Pastor und seine Tochter die Situation zu ihrem Vorteil aus. In Guatemala stürzt eine Pilotin mit ihrem Flugzeug ab und braucht dringend medizinische Versorgung.

Die junge Regisseurin Lin Sternal, die an der Filmakademie Baden-Württemberg studierte, ist mit ihrem Kinderdokumentarfilm „Perro“ dabei, der eben Weltpremiere auf der Berlinale hatte. Der Junge Perro lebt mit seiner Großmutter im nicaraguanischen Dschungel. Doch als die Regierung ein großes Kanalbauprojekt ins Auge fasst, droht ihnen die Zwangsumsiedlung.

Aus Spanien kommt der Dokumentarfilm „El escritor de un país sin librerías“ (Der Schriftsteller aus einem Land ohne Buchhandlungen) von Marc Serena. Darin geht es um den Schriftsteller Juan Tomás Avila Laurel, der 2011 aus politischen Gründen aus Äquatorialguinea nach Spanien fliehen musste. Gewissermaßen durch seine Bücher gelangen die Zuschauer in eines der am stärksten isolierten Länder Afrikas, seit einem halben Jahrhundert von Spanien unabhängig.

Sobald es machbar ist, kommt das CineLatino in Tübingen, Reutlingen, Stuttgart und Freiburg in die Kinos, so de Carvalho. Später als September wird schwierig, wegen der anderen Tübinger Filmfestivals. „Wir müssen ein bisschen auf Zeit spielen. Vielleicht haben wir Glück, dass die Sache sich entspannt.“

Eine sommerliche Open-Air-Alternative kann das Festival sich nicht leisten: „Das braucht eine zusätzliche Logistik, die wir nicht finanzieren können.“ Das meiste Geld ist schon weg, sagte der Festivalleiter. „Corona kam im März. Im März haben wir den Großteil unserer Gelder ausgegeben“ – für Filmrechte und für Flugtickets für Gäste, die teilweise in Gutscheine umgebucht werden konnten. Eben hat das CineLatino 9000 Euro Nothilfe für Kulturschaffende beim Bund beantragt, wartet aber noch auf Antwort. Eine Verschiebung bedeutet auf jeden Fall ein Minus, eine Absage ein großes Minus. „Aber es gibt noch Hoffnung.“

Plattform für den lateinamerikanischen Film

Als das CineLatino 1992 als kleine Filmreihe begann, bot es Einblicke in eine hierzulande wenig bekannte Filmlandschaft. Doch bald entwickelte es sich zu einer wichtigen Plattform für den lateinamerikanischen und seit 2003 auch für den spanischen Film. Das Festival hatte immer auch eine starke politische Seite und widmet sich kontinuierlich der Aufarbeitung der Diktaturen und der Menschenrechtsverbrechen in Lateinamerika wie in Spanien. Ohne Festivals wie das Cinelatino könnten viel weniger neue Filme in Tübingen gezeigt werden, sagt der Künstlerische Leiter Paulo de Carvalho. „Niemand würde eine Weltpremiere nach Tübingen geben.“

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Erstellt:
21.04.2020, 23:45 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 45sec
zuletzt aktualisiert: 21.04.2020, 23:45 Uhr

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