Musicals

Zaubern müsste man können

Seit Beginn der Pandemie liegt die Branche brach und kämpft ums Überleben. Für millionenteure Produktionen wie „Harry Potter und das verwunschene Kind“ gibt es nur vage Perspektiven.

12.04.2021

Von CHRISTOPH FORSTHOFF

Vincent Lang als Albus Potter in dem Musical „Harry Potter und das verwunschene Kind“. Die Premiere in Hamburg musste wegen Corona schon zum dritten Mal verschoben werden. Foto: Axel Heimken/dpa

Vincent Lang als Albus Potter in dem Musical „Harry Potter und das verwunschene Kind“. Die Premiere in Hamburg musste wegen Corona schon zum dritten Mal verschoben werden. Foto: Axel Heimken/dpa

Stuttgart. Für uns ist es nicht mehr fünf vor zwölf, sondern eine Minute vor zwölf.“ Maik Klokow mag die theatralen Kniffe seiner Branche nur zu gut kennen, zum Dramatisieren neigt der Geschäftsführer der Mehr-BB Entertainment nicht. Und so ist denn seine Feststellung auch weit mehr als nur ein Hilferuf aus dem Live-Entertainment-Sektor: Denn auf den Bühnen der Großmusicals herrscht seit einem Jahr nicht nur Totenstille, es fehlt nach wie vor eine Öffnungsperspektive.

Fatal für ein Genre, dessen Produktionen mit gewaltigen Kosten verbunden sind: 42 Millionen Euro hatte Mehr-BB Entertainment in die geplante deutsche Erstaufführung von „Harry Potter und das verwunschene Kind“ samt Umbau einer Halle am Hamburger Großmarkt gesteckt, Klokow für fünf Millionen Euro eine gewaltige Marketing-Maschinerie anlaufen lassen und mehr als 300?000 Eintrittskarten verkauft – bis dann einen Tag vor der Premiere im März letzten Jahres der Lockdown kam. Der Start des Zauberspektakels um Harry Potter musste nun zum dritten Mal aufgeschoben werden.

Nicht besser als dem Zauberlehrling erging es den Hexen von Oz: Im vergangenen Oktober hätte sich für das Musical „Wicked“ der Stage Entertainment (SE) in Hamburg der Vorhang heben sollen – nun plant Deutschlands Musical-Marktführer die Premiere für Juli. Eine zeitliche Verschiebung, die ähnlich auch die Welturaufführung von Ralph Siegels „Zeppelin“-Traum im Festspielhaus Neuschwanstein erfahren musste – und doch stellt sich für alle drei Inszenierungen inzwischen erneut die bange Frage: Können die Premieren-Termine wirklich gehalten werden?

Die Beschlüsse der Politik seien für die Produzenten nicht viel mehr als ein „perspektivloses Abwarten“, kritisiert Dieter Semmelmann, Gründer von Semmel Concerts: „Wir haben unsere Tourneeproduktionen jetzt in den Spätherbst oder gleich ins nächste Jahr verlegt“, stellt der Geschäftsführer eines der größten deutschen Live-Entertainment-Unternehmen nüchtern fest . Aufführungsverbote und Verschiebungen, die etwa für Mehr-BB Entertainment ein zweistelliges Millionen-Minus bedeuten und sich für die festen Musicaltheater der Stage zu Mindereinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe summieren.

Die Folge: Rücklagen schwinden rasant – die Stage Entertainment, die auch in Stuttgart zwei Häuser betreibt, muss inzwischen trotz Kündigung eines Drittels ihrer Verwaltungsmitarbeiter sogar auf ein verzinstes Darlehen ihres Eigentümers Advance Publications zurückgreifen. Schließlich laufen die meisten Kosten für die Musical-Theater weiter, während sie hinsichtlich staatlicher wie städtischer Hilfsangebote durch fast alle Raster fallen: Allein die Finanzhilfen der Kurzarbeit können die großen privaten Bühnen für sich in Anspruch nehmen – doch eine echte Zukunftsoption bietet diese Regierungs-Maßnahme für die Stage nicht angesichts monatlicher Ausgaben von fünf Millionen Euro für Mieten, Steuern und Energie.

Kein Wunder, dass sich die Musical-Branche von der Politik im Stich gelassen fühlt. „Zum Beginn der Krise hatten wir stärker den Eindruck, dass sich Politiker mit unserer Problematik auseinandergesetzt haben“, resümiert SE-Unternehmenssprecher Stephan Jaekel nach zwölf Monaten Zwangspause. „Inzwischen werden die Gesprächstermine immer rarer und kürzer, und über Kultur wird nur noch als lästiger Appendix gesprochen.“

Und Kokemüller konstatiert: „Nach einem Jahr zeigt die Politik einfach zu wenig Aufmerksamkeit – dabei sind wir alle große Arbeitgeber und sorgen für eine entsprechende Umwegrentabilität in den Städten.“ Schließlich bescheren die Show-Besucher Hamburg, Berlin und Stuttgart alljährlich hunderttausende Übernachtungen .

Und doch ist es bislang allein Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die mit dem Programm „Neustart Kultur“ den gebeutelten privaten Veranstaltern ein wenig unter die Arme greift: Bis zu 100?000 Euro pro Musicaltheater sind hier an Unterstützung für die neuerdings erforderlichen Hygienemaßnahmen in den Häusern abrufbar – angesichts der laufenden Kosten ein Tropfen auf dem heißen Stein.

„Umso wichtiger ist es nun, dass der von Olaf Scholz geplante Rettungsschirm für Veranstaltungen im zweiten Halbjahr 2021 wirklich zur Umsetzung kommt“, fordert Klokow. Der Finanzminister plant zum einen die finanzielle Absicherung von Veranstaltungen, die durch einen erneuten Lockdown dann doch nicht stattfinden können; zum anderen sollen jene Einnahmenausfälle übernommen werden, die entstünden, wenn in Theatern nur jeder zweite oder gar dritte Platz aufgrund von Abstands-Vorgaben besetzt werden darf.

Denn mögen öffentlich subventionierte Bühnen auch mit erlaubten Platzauslastungen zwischen 15 und 30 Prozent wie im letzten Herbst spielen, für die privaten Musical-Häuser sind ohne Zuschüsse die Kosten schlicht zu hoch: „Erst wenn unser Saal zur Hälfte verkauft ist, ergibt sich eine schwarze Null“, sagt Ulrike Propach, Pressesprecherin des Festspielhauses Neuschwanstein .

Publikum braucht Zuversicht

Vor allem aber: Werden die Zuschauer wieder in die Musicaltheater zurückkehren? Es gebe eine große „Verunsicherung“ im Publikum, stellt Kokemüller fest: „Da braucht es erstmal wieder Zuversicht – und die kann nur mit guten Nachrichten von der Impffront kommen.“ Also die Impfung als Zugangsvoraussetzung für Veranstaltungen ?

Da sind die Musical-Macher dann doch zurückhaltend – wohl wissend, dass solch eine Pflicht Publikum auch abschrecken könnte. „Natürlich kann man nicht nur Geimpfte reinlassen, sondern muss allen die Möglichkeit geben, die Veranstaltung zu besuchen – zusätzlich mit Schnelltests für diese Klientel“, sagt Semmelmann.

Im Festspielhaus Neuschwanstein wurde solch eine Testaktion im vergangenen Jahr bei der Präsentation des „Zeppelin“-Projektes mit 200 Gästen erfolgreich durchgeführt – im größeren Rahmen hält Jaekel dies indes für unrealistisch: „Wenn 2000 Besucher beim ,König der Löwen? einen Schnelltest machen sollen, würde das viel zu lange dauern.“ Allzu viele offene Fragen für eine Branche vor dem Abgrund. Semmelmanns ungebrochene Zuversicht klingt da fast wie das Pfeifen im finsteren Walde: „Ich glaube an sehr gute Jahre nach dem Ende der Pandemie.“

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Erstellt:
12.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 46sec
zuletzt aktualisiert: 12.04.2021, 06:00 Uhr

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