Studie

Wer quer denkt: Verwurzelung im Südwesten

Was macht die Querdenker-Bewegung in Baden-Württemberg aus – und warum ist sie gerade im Südwesten so stark verwurzelt?

23.11.2021

Von Jens Schmitz

Stuttgart. Gut ausgebildet, wohlsituiert, Ich-bezogen, oft esoterisch: Das sind Eigenschaften, die sich bei Angehörigen der Querdenker-Bewegung in Baden-Württemberg überproportional häufig finden. Einer wissenschaftlichen Untersuchung zufolge schreiben sich in ihr Einstellungen des früheren Alternativmilieus und des anthroposophischen Umfelds fort. Zu den Corona-Protesten in Ostdeutschland hingegen bestehen klare Unterschiede.

Bei der Untersuchung haben sich nach Angaben von Professor Oliver Nachtwey und der Soziologin Nadine Frey für zwei populäre Thesen kaum Belege gefunden: Dass die Querdenker-Bewegung maßgeblich im christlich-evangelikalen Umfeld oder im bürgerlichen Protestmilieu (Stichwort: Stuttgart 21) verankert sei. Vielmehr speise sich die Bewegung aus dem früheren linksalternativen und anthroposophischen Milieu.

Wiederkehrende Elemente bei der Befragung von Querdenkern waren die Kritik an Wissenschaft, Politik und Medien, häufig gestützt auf der Annahme, die Pandemie sei gar keine oder wenig gefährlich. „Wenn es keine Pandemie gibt, muss etwas anderes dahinterstecken“, erläuterte Frey die Nähe zu Verschwörungstheorien. Wiederkehrend sei auch eine Selbstinszenierung als heroischer Widerstandskämpfer und kritischer Bürger, der sich seine Expertise selbst aneignet. Man zähle sich zum „Kern der Eingeweihten“, der über höheres Wissen verfüge.

Nachtwey zufolge handelt es sich bei den Querdenkenden überdurchschnittlich häufig um Angehörige der Mittel- und Oberschicht. Sie verfügten über vergleichsweise hohe Bildungsabschlüsse, gute Jobs und seien oft selbstständig. Anders als Menschen mit geringem Einkommen kennt die „Bewegung der qualifizierten Mitte“ den Staat bisher nur als Ermöglicher. Entsprechend empört sei man nun über die aktuellen Beschränkungen. Allerdings seien Querdenker der parlamentarischen Politik meist auch zuvor schon entfremdet gewesen.

Biographisch gesehen kämen viele Sympathisanten von links, hätten antiautoritäre Ansichten zur Kindererziehung, keine Probleme mit Migranten und bis zur Corona-Krise zu mehr als 30 Prozent Grün gewählt. Mit der Corona-Krise veränderte sich das. Große Teile dieser Grün-Wähler wanderten ins Lager der Nichtwähler oder zur AfD. In Ost-Bundesländern speisten sich Corona-Kritiker zum großen Teil ohnehin aus diesem Protest-Lager.

Das Querdenkertum schreibe am ehesten Traditionen des früheren linksalternativen Milieus fort, erklärte Nachtwey. Das Lebensalter sei mit 47 Jahren für eine Protestbewegung vergleichsweise hoch. Allerdings sei von Werten wie Solidarität und Gleichheit nichts mehr übrig, an ihre Stelle seien Individualismus und libertäres Freiheitsverständnis getreten, gepaart mit einem antipolitischen Rückzug auf Lebensstile der Körperpolitik, der Selbstverwirklichung und der Ganzheitlichkeit.

Auch die Anthroposophie stärkt das Querdenkertum im Südwesten. Man sei sehr häufig vernetzt, weil Partner oder Haushaltsangehörige Heilpraktiker sind oder sonst im Milieu sozialisiert. „Das Individuum ist in der Anthroposophie fast schon eine antiautoritäre Gegenmacht.“ Mit einem Viertel der Waldorfschulen, einem Drittel der deutschen Demeter-Höfe und der Hälfte der anthroposophischen Kliniken Deutschlands sei die institutionelle Einbettung in Baden-Württemberg sehr stark.

Die beiden Wissenschaftler wiesen aber auch darauf hin, dass es innerhalb des Milieus klare Abgrenzungsbestrebungen gebe. Viele Eltern hätten auf der Suche nach Schulen mit der vermeintlich größten Distanz zum Staat schlicht Waldorfschulen gewählt.

Info Die Studie findet sich unter: https://boell-bw.de/sites/default/files/2021-11/Studie_Quellen%20des%20Querdenkertums.pdf

Umfragen und Interviews als Basis

Die Studie „Quellen des ,Querdenkertums‘ – eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg“ wurde im Auftrag der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg von Wissenschaftlern der Universität Basel erstellt.

Grundlage waren Umfragen in Telegram-Gruppen, Interviews mit Corona-Kritikern, Befragungen von Experten für bestimmte Milieus sowie Beobachtungen etwa bei Demonstrationen. Die Studie wurde geleitet von Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse, und der Soziologin Nadine Frey. Die Ergebnisse seien nicht repräsentativ, aber von guter Qualität.

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Erstellt:
23.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 43sec
zuletzt aktualisiert: 23.11.2021, 06:00 Uhr

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