Barbara Bosch im Interview

Bürgerentscheide: Weg von bloßen Ja-/Nein-Fragen

Die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Barbara Bosch, will die Form der Bürgerentscheide ändern – und Foren mit Zufallsbürgern stärken.

27.10.2021

Von Roland Muschel

Staatsrätin Barbara Bosch will auch ein dauerhaftes Forum zur Beteiligung von Jugendlichen einrichten.  Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Staatsrätin Barbara Bosch will auch ein dauerhaftes Forum zur Beteiligung von Jugendlichen einrichten. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Stuttgart. Ihr Amtszimmer hat die neue Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Barbara Bosch, in der Villa Clay – in direkter Nachbarschaft zur Villa Reitzenstein, dem Amtssitz von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Die Figur eines Rottweilers, der im Zimmer stumm Wache hält, hat sie von Vorgängerin Gisela Erler übernommen – und viele Vorarbeiten. Daran will Bsoch anknüpfen, aber auch neue Akzente setzen.

Frau Bosch, 2019 hatten Sie sich als Reutlinger Oberbürgermeisterin aus der aktiven Politik verabschiedet, nun sind Sie als Staatsrätin zurück auf der politischen Bühne. Hat Sie die Anfrage von Ministerpräsident Winfried Kretschmann überrascht?

Barbara Bosch: Ich war überrascht, ja, das hatte ich nicht auf dem Schirm. Ich musste auch etwas überlegen, ob ich die Anfrage annehme. Aber sie war zu reizvoll, um sie ablehnen zu können. Ich hatte ja wegen der Gesundheit meines Mannes als Oberbürgermeisterin aufgehört. Zum Glück geht es ihm wieder besser, sonst hätte ich dem Ministerpräsidenten auch nicht zugesagt.

Was reizt Sie an Ihrem neuen Amt?

Ich habe als Oberbürgermeisterin mit dem Gefühl aufgehört, dass wir die Bürger in der Breite noch stärker mitnehmen müssen, damit unsere Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriftet. Als langjährige Kollegin der Kommunalchefs verstehe ich deren Sorgen, was mehr Partizipation angeht, aber ich kann ihnen zugleich glaubhaft versichern: Eine frühe Beteiligung der Bürger bringt Verfahren schneller voran – nicht langsamer.

2011 ist Winfried Kretschmann mit dem Versprechen der ‚Politik des Gehörtwerdens‘ Ministerpräsident geworden. Jetzt haben andere Themen Konjunktur. Welchen Stellenwert hat Bürgerbeteiligung heute?

Wir leben in einer Zeit der Umbrüche – und der Verunsicherung. In Gesprächen mit Bürgern spüre ich vielfach Ängste vor der Zukunft, die Stichworte lauten Corona-Pandemie, Klimawandel, Transformation der Wirtschaft, Digitalisierung, Wohnungsmangel.  Ich erlebe gleichzeitig eine wachsende Entfremdung von staatlichen Institutionen, eine Haltung nach dem Motto: Die ‚da oben‘ machen doch ohnehin, was sie wollen! Die notwendigen Veränderungen aber können wir nur mit den Menschen bewältigen, nicht gegen sie.  Mit der Dialogischen Bürgerbeteiligung schließen wir die vielfach empfundene Lücke zwischen ,denen da oben‘ und ‚denen da unten‘.

Wie lautet zehn Jahre nach dem Versprechen der ‚Politik des Gehörtwerdens‘ der Arbeitsauftrag?

Wir haben mit der ‚Politik des Gehörtwerdens‘ begonnen, jetzt sind wir schon bei der ‚Politik des Mitwirkens‘. Baden-Württemberg ist bei der Dialogischen Bürgerbeteiligung Musterland. Ich sehe mich als Hüterin der Verfahren. Baden-Württemberg hat 2015 die Möglichkeiten der direkten Demokratie erweitert. Wir merken jetzt in der Praxis, dass an der einen oder anderen Stelle Nachjustierungen notwendig sind.  Aber wir gehen auch neue Bausteine an,  etwa Bürgerforen zu wichtigen Gesetzesentwürfen der Landesregierung.

Der Ministerpräsident will, dass Verfahren zum Bau von Windkraftanlagen mindestens doppelt so schnell ablaufen wie bislang. Hier geht es vor allem um bürokratische Hemmnisse oder langwierige Gerichtsverfahren. Hat das auch Auswirkungen auf die Bürgerbeteiligung?

Es gibt im Baugesetzbuch schon jetzt die Möglichkeit, bestimmte Vorhaben von nationaler Bedeutung, etwa die Unterbringung von Sicherheitsbehörden, für kommunale Bürgerentscheide auszuschließen und die Entscheidung auf Landesebene zu ziehen – per Gesetz und entsprechend vorgeschalteter Bürgerbeteiligung. Auch für den Bau von Windkraftanlagen müssen wir das prüfen. Das Problem ist, dass über grundlegende Fragen etwa im Naturschutz oder bei der Standortauswahl jedes Mal aufs Neue auf der kommunalen Ebene Grundsatzdebatten geführt werden. Da verstehe ich Bürgermeister, die uns sagen: Ihr wollt mehr Klimaschutz – und wir sollen für euch vor Ort die Kohlen aus dem Feuer holen!

Was ist mit anderen Parametern wie Arbeitsplätzen? In Dettingen unter Teck etwa hat ein Bürgerentscheid jüngst die Ausweisung eines Hochtechnologie-Standorts gekippt.

Generell kann es nicht sein, dass eine Gemeinde wie Dettingen mit 5600 Einwohnern darüber entscheidet, ob es dem Automobilland Baden-Württemberg gelingt, bei klimafreundlichen Antriebssystemen zum Zuge zu kommen. Die Ansiedlung eines Brennstoffzellenwerks halte ich für eine Frage von Landesinteresse – wegen des Klimaschutzes, aber auch zur Sicherung unseres Wohlstandes. Mittelfristig sollten wir überlegen, grundsätzlich Fragen der Energiewende, auch der richtigen Standorte für Investitionen in Energiewende-Vorhaben, auf Landesebene zu entscheiden. Jetzt hat aber Windkraft Priorität.

Und die Bürger?

Es wird weiter Bürgerentscheide zu lokalen Fragen geben, wenn sie nicht von Landesinteresse sind. Und bei wichtigen Fragen soll es generell eine dialogische Bürgerbeteiligung mit Zufallsbürgern geben, also per Losverfahren ermittelten Bürgern, die den Durchschnitt der Bevölkerung abbilden. Damit kann man die stille Mitte der Gesellschaft, etwa Menschen ohne Studium oder Eltern ohne Zeit für langatmige Abendveranstaltungen, mitnehmen. Bei Bürgerentscheiden geben ja oft organisierte Gruppen den Ton an, die nicht selten Partikularinteressen als Gemeinwohl ausgeben. Wir wollen daher generell die dialogische Beteiligung stärken.

Was heißt das konkret?

Die Bürger sollen erstens selbst dialogische Prozesse initiieren können, also Bürgerforen. Zweitens führen wir künftig bei allen wichtigen Gesetzesvorhaben ein Forum mit zufällig ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern durch. Drittens wollen wir mehr Dialogische Bürgerbeteiligung vor einem Bürgerentscheid. Beim Bürgerentscheid müssen wir wegkommen von bloßen Ja-/Nein-Fragen. Diese Zuspitzung bildet die Realität nicht ab und mobilisiert zu stark organisierte Interessengruppen, die so ein Schwarz-Weiß-Schema nutzen, um polarisierend Stimmung zu machen. Wir wollen auch eine Stichwahl zwischen Alternativen einführen.    

Er sehe mit „großem Argwohn“ Tendenzen, die repräsentative Demokratie durch immer mehr Bürgerentscheide aufzuweichen, klagte der Reutlinger OB Thomas Keck (SPD) nach der Ablehnung einer Regionalstadtbahn durch Tübinger Bürger. Was sagen Sie zu der Kritik?

Wenn Tübingen sehr früh den Dialog mit alternativen Optionen gesucht hätte, wäre es vielleicht gar nicht zu einem Bürgerentscheid gekommen und schon gar nicht mit dem Ergebnis. Mich bestärkt das Beispiel Tübingen in der Ansicht, dass wir das Format der dialogischen Bürgerbeteiligung – frühzeitig, transparent, offen, in Alternativen denkend – zwingend brauchen. Was kann es Besseres geben, als die Bürgerschaft in ihrer ganzen Breite anzusprechen? Jetzt, nach einem verlorenen Bürgerentscheid, sucht man bei der Regionalbahn in Tübingen nach Alternativen – das ist alles andere als Planungsbeschleunigung.

Was steht noch auf Ihrer Agenda?

Zwei Beispiele: Ich will ein dauerhaftes Forum zur Beteiligung Jugendlicher einrichten, damit auch deren Anliegen mehr und besser gehört werden.  Hier ist unser Sozialministerium schon dabei. Und wir werden eine Servicestelle Bürgerbeteiligung einrichten, die Gemeinden und Städte berät und operativ hilft, welche Instrumente sie wann und wie am besten nutzen können. Nicht jede Kommune muss das Rad neu erfinden.

Info: Erfahrene Kommunalpolitikerin

Barbara Bosch, 63, ist seit Juli 2021 als Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Mitglied der baden-württembergischen Landesregierung. Die gebürtige Stuttgarterin, die Politikwissenschaft und Kunstgeschichte studiert hat, war von 2003 bis 2019 Oberbürgermeisterin von Reutlingen und von 2011 bis 2016 zudem Präsidentin des Städtetags Baden-Württemberg. Bosch ist parteilos und ebenfalls im Ehrenamt Vorsitzende des Landesverbands Baden-Württemberg des Deutschen Roten Kreuzes.

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Erstellt:
27.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 25sec
zuletzt aktualisiert: 27.10.2021, 06:00 Uhr

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