Als die SV 03-Basketballer die Erde beben ließen
Vor 25 Jahren machte Martin Schalls Treffer zum 62:60 in Karlsruhe den SV03 zum Meister der 2. Liga
Manchmal träume er noch heute von diesem Spielzug, sagt Georg Kämpf ein Vierteljahrhundert später. 11. April 1992, Post-SV Karlsruhe gegen SV 03 Tübingen, wenige Sekunden vor Schluss steht es 60:60. Dann kommt der Ball zu Martin Schall. Und der damals 22-Jährige trifft, sichert damit den ersten Aufstieg einer Tübinger Mannschaft in die Basketball-Bundesliga. Die Geschichte einer Meisterschaft, die schon verspielt schien – ein Drama in fünf Akten.
Prolog
Zu Beginn der Saison 1991/92 denkt in Tübingen kaum einer an die Meisterschaft. Der SV 03 hatte zwar im Vorjahr Trier nur knapp den Vortritt lassen müssen. Doch das Team steht ohne Amerikaner da, musste Sprungwunder Stacy Butler zum FC Bayern ziehen lassen. Und wird vom Verband kalt erwischt: Der Status des gebürtigen Rumänen Robert Reisenbüchler als Deutscher wird nicht anerkannt – und da die Regularien nur einen Ausländer pro Team zulassen, dürfen Reisenbüchler und der rumänische Ex-Nationalspieler Roman Opsitaru während der gesamten Saison nicht gemeinsam spielen.
1. Akt: Die Hauptrunde
Die 2. Basketball-Bundesliga ist damals noch zweigeteilt in eine Nord- und eine Südgruppe mit jeweils zwölf Teams. Nach der Hauptrunde mit Hin- und Rückspielen ermitteln die ersten sechs Teams in der Aufstiegsrunde den Meister. Die Normalrunde verspricht Spannung: Baunach, Lotus München und der SV 03 biegen mit je 30:14 Punkten auf die Zielgeraden ein.
2. Akt: Der Sprung an die Spitze
Trainer Georg Kämpf tüftelt die vielleicht entscheidende Taktik aus: Er stellt den 2,04 Meter großen Adam Reisewitz auf die Flügelposition. Der dankt es mit einer überragenden Saison. „Er hat sein bestes Spiel gemacht, seit ich in Tübingen bin“, sagt Kämpf über Reisewitz nach dem 90:79 gegen den bisherigen Tabellenführer Baunach. Reisewitz macht 21 Punkte, der SV 03 steht erstmals an der Spitze. Nur noch sechs Spiele, vier davon zu Hause – das könnte reichen. Doch Kapitän Thomas Unger warnt: „Abgerechnet wird am 11. April“.
3. Akt: Alles scheint verloren
In München hat Tübingen am 28. März den ersten Matchball. Gegen Lotus führt der SV 03 zwölf Minuten vor Schluss mit 60:53, bei einem Sieg wäre der Titel perfekt. Selbst eine Niederlage mit bis zu sieben Punkten würde dank des besseren direkten Vergleichs reichen, um die Tabellenführung zu behalten. Zahlreiche mitgereiste Fans singen schon „Zweite Liga, nie mehr, nie mehr!“. Doch bei Lotus dreht plötzlich Ivica Maric auf. Mit 24 Punkten in den letzten zehn Minuten dreht er die Partie. Tübingen verliert 76:87, gibt damit auch den direkten Vergleich mit Lotus aus der Hand. Trainer Georg Kämpf hat nach dem Spiel „das Gesicht so weiß wie die Wände der Morawitzkyhalle“, berichtet TAGBLATT-Redakteur Hartmut Bihlmayer aus München. Aus dem Aufstiegs- droht ein Alptraum zu werden.
4. Akt: Treffer in letzter Sekunde
Am vorletzten Spieltag empfängt Tübingen den FC Baunach in der Uhlandhalle, gewinnt dank 21 Punkten von Robert Reisenbüchler mit 89:76 (41:39). Und doch verlassen 1300 Fans frustriert die Uhlandhalle. Denn Stefan Steck, Sohn des damaligen Abteilungsleiters Manfred Steck, hörte im „Bayerischen Rundfunk“ vom Krimi zwischen Lotus und dem FC Bayern in München. Mit der Schluss-Sirene trifft Pete Miller für SV 03-Titelkonkurrent Lotus zum 89:88, Tübingen bleibt Zweiter. „Jetzt war der Glanz wohl für die Katz‘“, titelt das TAGBLATT. Nur einer gibt nicht auf: „Ich glaube, dass wir noch eine 50-50-Chance haben“, sagt Kapitän Thomas Unger schon damals.
5. Akt: Das FInale furioso
11. April 1992, am letzten Spieltag tritt Lotus in Baunach an, Tübingen bei Post-SV Karlsruhe. Schon zur Pause liegt Lotus mit 12 Punkten hinten, verliert am Ende 65:70. Früh zeichnet sich ab: Ein Sieg in Karlsruhe reicht Tübingen. Vor 800 Zuschauern führt der SV 03 lange komfortabel, zur Halbzeit 37:23. Doch 29 Sekunden vor Schluss gleicht Karlsruhe aus zum 60:60. Auszeit SV 03, Reisewitz und Reisenbüchler sitzen mit je fünf Fouls schon draußen. Verlängerung? Keine gute Option für Tübingen. Der SV 03 hat den letzten Angriff, spielt Distanzwurf-Spezialist Martin Schall frei. „Als der Ball in der Luft war, hatte ich kein so gutes Gefühl“, erinnert sich Schall, „aber das Gefühl, als er dann drin war, ist nicht zu beschreiben.“ 62:60, das Spiel ist aus, Tübingen ist in der 1. Liga. Und Baunach bekommt für die Schützenhilfe 100 Liter Freibier.
Epilog: Die Meisterfeier
Kapitän Unger will nach dem Spiel in Karlsruhe eigentlich in den Urlaub fahren. Der VW-Bus ist gepackt, doch statt an den Comer See geht es zurück nach Tübingen. Genauer in die Lustnauer „Rose“, Stammlokal des 92er-Teams. „Wir waren nach dem Spiel nicht mehr zu halten“, sagt Reisewitz. „Ich glaube, das war das letzte kleinere Erdbeben in Lustau“, sagt Unger.
Große Online-Reportage
Ausführliche Video-Interviews, weitere Fotos und Texte zum Titelgewinn des SV 03 Tübingen in unserer Online-Reportage