Lokalgeschichte

Von der Hausschuhfabrik zum Ausflugslokal

Unter der Wurmlinger Kapelle betrieb die Familie Kratzer fast 50 Jahre lang eine Gartenwirtschaft.

20.08.2018

Von Frank Rumpel

1909 schickte Pius Kratzer diese Karte an Bekannte. Sie zeigt im Hintergrund die Wurmlinger Kapelle, vor allem aber das von ihm erbaute Haus, in dem lange Jahre Hausschuhe produziert wurden. Bild: Privat

1909 schickte Pius Kratzer diese Karte an Bekannte. Sie zeigt im Hintergrund die Wurmlinger Kapelle, vor allem aber das von ihm erbaute Haus, in dem lange Jahre Hausschuhe produziert wurden. Bild: Privat

Eine wohl auch unter Sammlern eher seltene Postkarte aus dem Jahr 1909 haben die Wurmlinger Eugen und Karl Märkle ausgegraben. Sie zeigt zum einen, wie sehr der Kapellenberg damals noch landwirtschaftlich genutzt wurde. Zudem ist im Vordergrund ein Gebäude zu sehen, das später vor allem als Gartenwirtschaft bekannt war, für die durstige Gäste schon mal aus Stuttgart anreisten. „Zur Wurmlinger Kapelle“ hieß das Lokal offiziell, doch nannten es die meisten nur „Kratzer“. So hießen die Wirtsleute.

Der Schuhmachermeister Emanuel Kratzer eröffnete das Lokal am 14. April 1957 zusammen mit seiner Frau Rosina. Auf sie lief die Schanklizenz. Leute, die vorbei gekommen seien, hätten immer wieder gesagt, wie geschickt das doch wäre, wenn es dort oben auf dem Weg zur Kapelle eine Wirtschaft gäbe, erzählt die heute 76-jährige Tochter Ruth Kratzer. Ihre Eltern griffen die Idee schließlich auf und eröffneten ihr Gasthaus, das von Anfang an gut lief.

Bis zu 100 Gäste im Hof

Ruth Kratzer arbeitete vom ersten Tag an mit. 16 Jahre alt war sie damals und half „überall, wo es gefehlt hat“. Als ihre Mutter im November 1986 starb, übernahm sie 1987 das Lokal. „Es wäre schade gewesen, das aufzugeben“, sagt sie. Allein aber wollte sie die Wirtschaft nicht betreiben. Denn die Gäste strömten vor allem bei schönem Wetter in das Gartenlokal und sie wusste nur zu gut, wie viel Arbeit das war. Ihr Bruder Helmut sprang ihr zur Seite und half mit, wenn er von seiner Arbeit als Mechaniker nach Hause kam.

Unterm Nussbaum standen im Hof zehn Garnituren, auf denen, wenn es mal eng zuging, bis zu 100 Gäste Platz fanden. In den Schankraum passten 32. Serviert wurden Vesperteller, Wurstsalat und vor allem Most – „selbst gemacht aus den eigenen Äpfeln“, sagt Kratzer. Los ging es bereits um 12 Uhr. Da kamen häufig Arbeiter vorbei, bei denen es schnell gehen musste. „Das war einfach Hektik pur“, sagt sie, die auch noch das Haus und den Garten versorgte. Bis 22 Uhr war geöffnet. „Da gingen aber noch nicht alle.“ Anschließend musste geputzt und aufgeräumt werden. „Da ist es oft sehr spät geworden“, sagt Kratzer.

2004 schlossen sie und ihr Bruder Helmut das Lokal aus gesundheitlichen Gründen. „Man hat halt gemerkt, dass es nicht mehr so schnell geht“, sagt sie, die sich gelegentlich noch „mit Schrecken“ an die hektischen Arbeitstage erinnert. Den Gästen freilich gefiel es auf den Bänken im Hof am Fuße der Kapelle und viele bedauerten das Aus. „Manche jammern heute noch, wenn sie mal vorbei kommen“, sagt Kratzer.

Das Haus neu aufgebaut

Sie und ihr Bruder leben nach wie vor in dem 1903 erbauten Haus. Ihr Großvater Pius Kratzer hatte das Gebäude von dem Wurmlinger Bauunternehmer Johann Bastisch Haug gekauft. Der wollte dort zunächst eine Brauerei eröffnen, doch daraus wurde nichts. 1894 wanderte Haug nach Nordamerika aus. So zumindest stehe es im Stammbaum der Familie, sagt Eugen Märkle.

Das Haus brannte 1902 ab. Pius Kratzer (der 1909 diese Karte an Bekannte in Ebingen schrieb) baute es wieder auf und eröffnete eine Hausschuhfabrik. Seine Söhne Reinhold, Hermann und Emanuel – Ruth Kratzers Vater – arbeiteten mit. Ihr Vater, erinnert sich Tochter Ruth, sei oft auf Reisen gewesen, um die Schuhe an Geschäfte zu verkaufen. Später, erzählt sie, sei die Fabrik nur noch eine Schuhmacherei gewesen, aus der schließlich eine brummende Gartenwirtschaft wurde.

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Erstellt:
20.08.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 47sec
zuletzt aktualisiert: 20.08.2018, 01:00 Uhr

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