Corona

Von Wahrheit und Lügen

Der Dokumentarfilm „Hold-Up“ erzeugt mit gefährlichen Verschwörungstheorien Aufregung in Frankreich – und sorgt für zahlreiche Klicks im Internet.

25.11.2020

Von KATRIN STAHL

Leere Straßen in Paris: Dass die Ausgangsbeschränkungen in Frankreich sinnvoll waren, zweifeln die Macher von „Hold-Up“ an. Der knapp drei Stunden lange Dokumentarfilm warnt vor Panikmache  und verbreitet im gleichen Moment Angst und Unsicherheit. Foto: dpa/ Lewis Joly

Leere Straßen in Paris: Dass die Ausgangsbeschränkungen in Frankreich sinnvoll waren, zweifeln die Macher von „Hold-Up“ an. Der knapp drei Stunden lange Dokumentarfilm warnt vor Panikmache und verbreitet im gleichen Moment Angst und Unsicherheit. Foto: dpa/ Lewis Joly

Paris. Den Anfang macht König Sars-CoV-2 höchstpersönlich. „Hallo Erdenbewohner, ich bin das Coronavirus“, ruft die muntere Animationsfigur mit der Krone auf dem Kopf und grinst in die Kamera. Dass jeder ihren Namen mit dem Tod verbindet, finde sie gar nicht cool. „Beruhigt euch mal.“ Irritierende Aussagen, abstruse Thesen: „Hold-Up“ heißt die Dokumentation, die seit Mitte November Frankreich durcheinanderwirbelt. Der Film, so die Macher, wolle die wahre Geschichte hinter der Corona-Pandemie erzählen. Zwei Stunden und 45 Minuten dauert das Verschwörungsfeuerwerk. Die Botschaft: Die Krise ist das Komplott einer korrupten Weltelite.

Zur „Beweisführung“ lässt „Hold-Up“ in rasanter Abfolge zahlreiche illustre Experten aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen zu Wort kommen. Im Gegensatz zum freundlichen Comic-Virus sind die jedoch alles andere als entspannt. Mit meist sorgenvoller Miene beklagen Mediziner, Anthropologen, Abgeordnete, Anwälte, Psychologen und Universitätsprofessoren einen „Verlust der Glaubwürdigkeit“, warnen vor einer „massiven Prekarisierung der Gesellschaft“, vergleichen die Covid-Erkrankung mit einer „kleinen Grippe“ und fragen, „wann die Menschen endlich die Augen öffnen“.

Der schwarze Hintergrund, die schwache Beleuchtung und Streichermusik verstärken die Dramatik. Es geht um schädliche Masken, sinnlose Ausgangsbeschränkungen, menschengemachte Viren, gefährliche Impfungen und den Einfluss von Regierungen, Pharma-Firmen, Medien und Bill Gates. Viele Aussagen bleiben vage, wissenschaftliche Belege oder konstruktive Vorschläge gibt es nicht. Dafür viele Grafiken, Hochglanzaufnahmen und betroffene Gesichter. „Hold-Up“ betreibt mediale Stimmungsmache – unter dem Deckmantel des Journalismus.

Der Mann hinter dem Film heißt Pierre Barnérias. Der Regisseur und Journalist hat bereits einige fragwürdige Dokumentationen gedreht – unter anderem über die vermeintliche kommunistische Infiltration der katholischen Kirche. Mit seinem neuesten Werk, das frei im Netz verfügbar ist, hat er im von Corona gebeutelten Frankreich offenbar einen Nerv getroffen: Mehr als zweieinhalb Millionen Mal wurde „Hold-Up“ alleine in den ersten Tagen aufgerufen. Die Anbieter Youtube und Vimeo entfernten das Video aus ihrem Angebot, doch immer wieder laden Nutzer Raubkopien hoch. In den sozialen Medien wird die Doku von den einen stark kritisiert, von den anderen gefeiert und geteilt. Auch Prominente wie die französische Schauspielerin Sophie Marceau gehören zu den Befürwortern.

„Es ist ein Dritter Weltkrieg“

Die Crowdfunding-Plattform Ulule, auf der in wenigen Wochen fast 200?000 Euro zur Finanzierung gesammelt wurden, hat sich mittlerweile von dem Film distanziert. Auch einige der insgesamt 37 Gesprächspartner haben ihre Aussagen zurückgezogen, darunter der ehemalige französische Gesundheitsminister Philippe Douste-Blazy sowie die bekannte Soziologin Monique Pinçon-Charlot. Diese hatte im Film vor einem „Dritten Weltkrieg“ und einem geplanten Holocaust gewarnt. Das Ziel der Reichen: im Klassenkampf die Ärmsten der Weltbevölkerung auszulöschen.

Mit Faktenchecks haben es sich die großen Nachrichtenhäuser Frankreichs zur Aufgabe gemacht, die Lügen der Doku aufzudecken (siehe Infokasten). Das ist nicht immer einfach, da diese sich oft mit allgemeingültigen Äußerungen oder gar berechtigter Kritik an Maßnahmen der französischen Regierung im Frühjahr überschneiden. Vermutlich ist es gerade das rhetorische Mittel der sogenannten „mille-feuille argumentatif“, das die Doku so gefährlich macht. Wie bei den vielen Schichten des gleichnamigen französischen Blätterteiggebäcks werden bei dieser Technik so viele einzelne Argumente übereinandergelegt, bis der Eindruck eines zusammenhängenden und logischen Ganzen entsteht. Zeit zum Nachdenken erhält der Zuschauer dabei nicht, Widerlegen wird kompliziert.

„Hold-Up“ warnt vor Panikmache – und verbreitet im gleichen Moment Angst und Unsicherheit. Was nach knapp drei Stunden Anschauen bleibt, ist das Gefühl, das man auch verspüren kann, wenn man zu viel Mille-Feuille gegessen hat: heftige Bauchschmerzen.

König Corona wirkt entspannt, andere Protagonisten weniger. Foto: Moritz Clauß

König Corona wirkt entspannt, andere Protagonisten weniger. Foto: Moritz Clauß

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Erstellt:
25.11.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 46sec
zuletzt aktualisiert: 25.11.2020, 06:00 Uhr

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