Roman
Vom Leben am Rande der Welt
Julia Phillips erzählt in „Das Verschwinden der Erde“ melancholische Geschichten aus einer abgeschiedenen Region.
Berlin. Es ist ein herrlicher Augusttag und an einer stillen Bucht Kamtschatkas vertreiben sich Aljona und Sofija die Zeit. Doch der Ausflug der Schwestern endet tragisch. Die Mädchen werden nie mehr zu ihrer Mutter zurückkommen. Eine Begegnung am Strand wird ihnen zum Verhängnis. Die einzige Zeugin ist keine wirkliche Hilfe für die Polizei. Und so endet die großangelegte Suchaktion im Nirgendwo. Derweil schließen Eltern ihre Kinder zu Hause ein und Kamtschatka hat über Wochen nur noch einen einzigen Gesprächsstoff.
Julia Phillips' Roman „Das Verschwinden der Erde“ beginnt wie ein Thriller. Doch schnell wird klar, dass die Geschichte dieses Verbrechens nur die Klammer für ein umfassendes Gesellschaftsporträt ist. Im Mittelpunkt dieses ungewöhnlichen Debüts steht Kamtschatka, jene weltabgeschiedene Halbinsel im äußersten Osten Russlands, die die meisten wahrscheinlich erst mit Mühe auf der Landkarte suchen müssen. Nicht nur wegen der isolierten Lage ist Kamtschatka ein Buch mit sieben Siegeln, sondern auch weil die Halbinsel jahrzehntelang militärisches Sperrgebiet war. Erst in jüngerer Zeit kommen Touristen ins Land, meist aus Ostasien.
Risse in der Gesellschaft
Die New Yorkerin Julia Phillips hat sich über ein Jahr lang auf Kamtschatka aufgehalten und dabei Landschaft und Bewohner ins Herz geschlossen. Ein romantisches Porträt ist ihr Roman deshalb aber noch lange nicht geworden. Die Natur ist kalt, schön und menschenleer, aber auch unberechenbar und bedrohlich. Vulkanausbrüche, Tsunamis, Erdbeben erzählen eine leidvolle Geschichte. Doch die Gefahren kommen nicht nur aus der Natur. Es gibt auch tiefe Risse in der Gesellschaft – zwischen Bewohnern der Großstadt Petropawlowsk und den ländlichen nördlichen Regionen, zwischen Russen und der indigenen Bevölkerung, zwischen Männern und Frauen, zwischen Alten und Jungen.
In zwölf Episoden, gegliedert nach den Monaten eines Jahres, erzählt Phillips von diesen Konflikten, fast immer aus der Perspektive von Frauen. Es geht in diesen Lebensgeschichten um Illusionen und kleine Fluchten, um Macht, Gewalt und Verlust. Es sind große und ernste Themen, trotzdem ist es kein schwerblütiger Roman geworden. Ein wirklich erstaunliches Debüt.
Sibylle Peine