Dirigenten

Kent Nagano: „Um die Musik mache ich mir keine Sorgen“

Kent Nagano wird 70. Um die klassische Musik macht sich der Weltstar keine Sorgen: Beethoven lebt in China, Bach in Afrika, Mozart in Kanada. Von Burkhard Schäfer

19.11.2021

Von Dr. Burkhard Schäfer

Der Dirigent Kent Nagano in der Hamburger Elbphilharmonie. Foto Christian Charisius / dpa

Der Dirigent Kent Nagano in der Hamburger Elbphilharmonie. Foto Christian Charisius / dpa

Er war Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München, wechselte 2015 dann in dieser Position nach Hamburg – und dirigiert weltweit. Am 22. November feiert Kent Nagano, der Amerikaner aus Südkalifornien mit japanischen Wurzeln, seinen 70. Geburtstag. Trotz aller Krisen, die die Welt erschüttern, betrachtet Nagano die Zukunft der klassischen Musik mit optimistischen Augen.

Herr Nagano, was waren Ihre ersten prägenden Musikerlebnisse?

Kent Nagano: Die „Inventionen“ von Bach haben mich als Kind sehr beeindruckt. Ein besonders prägendes Erlebnis war, als die San Francisco Symphony in unserem Dorf die „Neunte“ von Beethoven aufgeführt hat und meine Eltern mit mir damals dieses Konzert besuchten. Wir saßen in der Nähe des Schlagzeugs, und ich war vom vierten Satz total fasziniert, besonders, als beim Marsch das helle Becken erklang. Dieses Erlebnis ist unvergesslich für mich. Deshalb liebe ich Auftritte, die nicht nur auf den großen Bühnen stattfinden, denn man weiß nie, welches Kind dann im Publikum sitzen und ebenfalls völlig beeindruckt wieder hinausgehen wird. Ich würde deshalb niemals die Frage stellen: Ist es überhaupt notwendig, in einem kleinen Dorf zu gastieren? Es ist notwendig!

Sie haben Soziologie und Musik studiert. Inwieweit passen diese beiden Disziplinen zueinander?

Musik war im Mittelalter immer gegenwärtig, aber eben mit einer sehr wichtigen Einschränkung: Ziemlich oft wurde Musik nicht für eine offene Gesellschaft aufgeführt, sondern exklusiv im kirchlichen und aristokratischen Kontext. Doch mit der Aufklärung änderte sich das, und es entstand weitgehend das, was wir heute als klassische Musik bezeichnen. Die Erscheinung eines Bach, Mozart, Haydn oder Beethoven – das ging stark mit einer sozialen Entwicklung einher. Soziologie und Musik sind deshalb tatsächlich organisch verbunden. Die Ideen der Aufklärung – Individuum, Freiheit und das Gefühl, dass wir alle Brüder sind – werden in der Musik als bedeutende Themen verhandelt, sozusagen parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung.

Ihr Vater war Architekt und Mathematiker, Ihre Mutter Mikrobiologin. Inwieweit ist Musik für Sie auch eine Naturwissenschaft?

Meine Mutter war auch Pianistin und Cellistin und hat mir die Liebe zur Musik besonders weitergegeben. Da mein Vater ebenfalls Musik gespielt hat, musizierten wir zu Hause oft gemeinsam. Durch meinen Vater habe ich die Liebe zur Mathematik vererbt bekommen. Beide Elternteile haben ihre Karrieren aufgegeben, um die Farm meines Großvaters zu übernehmen. So zogen sie sich also trotz ihres hohen Bildungsgrades aufs Land zurück und wurden Bauern: Mathematik, Musik, Architektur, Wissenschaft und die Natur gehörten in unserer Familie einfach zusammen. Sie fügten sich ineinander.

Können wir angesichts der Naturzerstörung und des Klimawandels Werke wie beispielsweise „Die Schöpfung“ von Haydn heute noch unvoreingenommen hören?

Die „Schöpfung“ und die „Jahreszeiten“ von Haydn oder die „Pastorale“ von Beethoven haben ja früher schon die Zerstörung der Umwelt durch die damalige Industrielle Revolution musikalisch thematisiert. Haydn war in London und hat diese schrecklichen Produktionsbedingungen mit eigenen Augen gesehen. Beethoven kannte den Wiener Wald und wusste, was dort die Industrielle Revolution in der Natur anzurichten in der Lage war. Diese Beispiele zeigen: Jedes Mal wird ein neuer technischer Impuls auch zum künstlerischen Impuls.

Wie wird sich der Klassik-Betrieb angesichts von Corona und Climate Change verändern?

Man muss sich immer daran erinnern, dass die Musikindustrie und die klassische Musik zwei verschiedene Dinge sind. Ich glaube, alle sind damit einverstanden, dass unser Leben sowieso nicht wieder wie vor dem Corona-Virus werden wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Musik selbst sich Richtung Zukunft weiterentwickelt. Etwa, wenn ich an die wunderbaren Erfahrungen denke, die ich mit jungen kreativen Musikern und ihren Werken mache. Oder wenn ich an den Generationenwechsel in unserem Orchester denke. Die nächste Generation bringt wieder ganz neue Perspektiven mit. Um die Musik selbst mache ich mir keine Sorgen. Man kann es überall beobachten: Beethoven lebt in China, Bach lebt in Afrika, Mozart lebt in Kanada.

Mit CDs verdienen Künstler schon lange nichts mehr, Streaming ersetzt das Live-Erlebnis . . .

Was Sie beschreiben, betrifft die Repräsentation von Musik. CD und Fernsehen repräsentieren die Musik, und das ist eine Art des Musik-Teilens. Durch Streaming oder Aufnahmen wird unser Publikum natürlich viel breiter. Zum Beispiel haben mein Vater und ich als Kind am Wochenende den Metropolitan Podcast gehört. Nur hieß das damals noch nicht Podcast (lacht). Sonntags haben wir oft auch Leonard Bernsteins Konzert für junge Leute im Fernsehen verfolgt. Das sind großartige Kindheitserinnerungen, die mich auch heute noch beglücken. Die Darstellungsformen von Musik ändern sich mit der Technologie. Das ist eigentlich eine unglaubliche Chance – für die Menschen und auch für die Musik selbst.

Lassen Sie uns noch über Ihr neues Buch „10 Lessons of my life“ reden. Welche Botschaft wollen Sie damit vermitteln?

Das Buch wirft einen Blick auf das Lernen. Wir alle lernen ja nicht nur in der Schule oder an der Universität. Die wichtigsten Lektionen ergeben sich in sozialen Kontexten, also in der Interaktion mit anderen Menschen. Genau das wollte ich in dem Buch zeigen. Es handelt von Begegnungen mit Menschen, die meine Einstellung, mein Denken, ja sogar mein Leben verändert haben: Oliver Messiaen natürlich, Leonard Bernstein, aber auch Sarah Caldwell, die Pop-Sängerin Björk und nicht zuletzt Alfred Brendel. Ich zeige, wie sehr der Zufall bestimmt, ob wir Menschen begegnen, von denen wir etwas annehmen können.

Und wie viel Glück dazu gehört, dass wir diesen Menschen genau dann begegnen, wenn wir für ihre Botschaften empfänglich sind. Da kann ein Mentor eine Rolle spielen, ein Professor oder ein Kollege. Ich bin Menschen begegnet, die in ihrer Großzügigkeit, ihr Wissen und ihre Erfahrung zu vermitteln, keine Grenzen kannten.

Ein Buch und eine CD-Box

Zu seinem 70. Geburtstag ist Kent Naganos neues Buch „10 Lessons of my Life – Was wirklich zählt“ im Berlin-Verlag erschienen (208 Seiten, 22 Euro). Parallel dazu hat das Label BR-Klassik eine Box mit drei CDs veröffentlicht, auf der einige der wichtigsten Orchesterwerke von Olivier Messiaen zu hören sind. Kent Nagano leitet den Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

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Erstellt:
19.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 08sec
zuletzt aktualisiert: 19.11.2021, 06:00 Uhr

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