Tübinger Forschung

So jagten die Neandertaler

Neu entdeckte Blattspitze war Teil einer Stoßlanze: Archäologen der Uni Tübingen präsentieren im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren neue Funde.

07.08.2021

Von ST

In der Welterbe-Höhle „Hohle Fels“ auf der Schwäbischen Alb wurde die Hornsteinspitze 2020 ausgegraben.Bild: Nicholas Conard/Universität Tübingen

In der Welterbe-Höhle „Hohle Fels“ auf der Schwäbischen Alb wurde die Hornsteinspitze 2020 ausgegraben.Bild: Nicholas Conard / Universität Tübingen

Schon in der Mittleren Altsteinzeit, vor mehr als 65000 Jahren, jagten die Neandertaler auf der Schwäbischen Alb mit komplex hergestellten Waffen Großwild wie Rentiere oder Wildpferde. Das belegt ein neuer Fund aus der Welterbe-Höhle „Hohle Fels“ auf der Schwäbischen Alb nahe Schelklingen. Wie Prof. Nicholas Conard und sein Team aus der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen berichten, wurde unterhalb der Fundschichten des modernen Menschen eine exzellent erhaltene, blattförmig bearbeitete Hornsteinspitze ausgegraben. Solche Funde werden in der Forschung Blattspitzen genannt. Der neue Fund stammt aus der Zeit der Neandertaler, war Teil einer Stoßlanze gewesen und verrät viel Neues über die kognitiven und handwerklichen Fähigkeiten der Neandertaler. Die Ausgrabungsergebnisse werden in den aktuellen Ausgaben der Fachzeitschriften Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg sowie in den Mitteilungen der Gesellschaft für Urgeschichte veröffentlicht.

„Es ist die erste Blattspitze, die auf der Schwäbischen Alb mit modernen Methoden ausgegraben und mit modernsten Mitteln analysiert wurde“, sagt Conard über die außergewöhnlich fein gearbeitete Blattspitze aus grauem Jurahornstein. Zuletzt wurden ähnliche Funde 1936 in der Region geborgen. „Das ist ein neuer Schritt für die Neandertaler-Forschungsgeschichte und belegt, wie der Neandertaler diese Jagdwaffen herstellte und benutzte.“ Die Blattspitze ist 7,6 Zentimeter lang, 4,1 Zentimeter breit, 0,9 Zentimeter dick und 28 Gramm schwer. Wegen der Fundlage in den tieferen Sedimentschichten der Mittleren Altsteinzeit sowie der Auswertung von Begleitfunden anhand von Datierungen wird ihr Alter auf mehr als 65000 Jahre eingeordnet. Die sogenannte Blattspitzengruppe in Südwestdeutschland wurde bislang im Allgemeinen deutlich später – vor 45000 bis 55000 Jahren – datiert. Damit ergeben sich neue spannende Fragestellungen zur Chronologie der Mittleren Altsteinzeit.

Der Tübinger Urgeschichtler Nicholas Conard. Bild: Friedhelm Albrecht

Der Tübinger Urgeschichtler Nicholas Conard. Bild: Friedhelm Albrecht

Über die Verwendung von Blattspitzen in der Mittleren Altsteinzeit gibt es mehrere Hypothesen: Sie könnten als Messer, als Teil eines Wurfspeers oder einer Stoßwaffe benutzt worden sein. Analysen der Gebrauchsspuren des neuen Funds aus dem Hohle Fels durch ein Archäologenteam um Veerle Rots an der Universität Lüttich in Belgien haben einerseits ergeben, dass die Blattspitze an ihrem flachen Ende mit einem auf Pflanzen basierenden Klebstoff geschäftet war und mit entsprechenden Fasern, Tiersehnen oder Lederriemen gefestigt wurde. Somit ist eine Klebung in einen eigens angepassten Holzschaft anzunehmen.

Anderseits weist der Fund an seinem spitzen Ende Beschädigungen auf. Wie Experimente von Rots’ Team gezeigt haben, lassen die Beschädigungen zum einen auf eine Abnutzung beim Einsatz als Teil einer Stoßlanze schließen. Zum anderen aber auch auf misslungene Versuche, die Blattspitze nachzuschärfen. Es wird angenommen, dass die Schädigungen die Blattspitze unbrauchbar machten und sie deshalb im Hohle Fels zurückgelassen wurde. „Das zeigt uns, dass die Neandertaler ganz genau wussten, was sie erreichen wollten“, sagt Rots. „Sie waren technisch in der Lage, Waffen herzustellen, die einem ganz bestimmen Zweck dienen sollten – in diesem Fall dem Erlegen von Großwild aus unmittelbarer Nähe.“ Im Gegensatz zu den gut belegten hölzernen Jagdwaffen der Älteren Altsteinzeit, haben die Neandertaler der Mittleren Altsteinzeit in Holzspeeren geschäftete Steinspitzen eingesetzt.

Blattspitzen für Stoßlanzen von Neandertalern. Bild: Universität Tübingen

Blattspitzen für Stoßlanzen von Neandertalern. Bild: Universität Tübingen

Info Die Blattspitze wird bis Anfang Januar 2022 im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren (urmu) als Fund des Jahres ausgestellt. Prominentestes Exponat ist das Original der „Venus vom Hohle Fels“. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag und feiertags, 10 bis 17 Uhr; Internet: www.urmu.de

Zum Artikel

Erstellt:
07.08.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 41sec
zuletzt aktualisiert: 07.08.2021, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Wirtschaft: Macher, Moneten, Mittelstand
Branchen, Business und Personen: Sie interessieren sich für Themen aus der regionalen Wirtschaft? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Macher, Moneten, Mittelstand!