Musikindustrie

Schwarze Scheibe sucht grünen Dreh

Seit Jahren boomt der Vinylmarkt, dabei ist die Schallplatte ökologisch ein fragwürdiges Produkt. Die Branche sucht deswegen nach Alternativen zum PVC.

24.08.2021

Von Marcus Golling

Blick in ein Presswerk: Während die CD auf dem Markt abschmiert, steigen seit Jahren die Umsätze mit Vinyl-Schallplatten. Foto: Jan Woitas

Blick in ein Presswerk: Während die CD auf dem Markt abschmiert, steigen seit Jahren die Umsätze mit Vinyl-Schallplatten. Foto: Jan Woitas

Halle an der Saale. Wer sagt denn, dass es im Pop immer um Liebe gehen muss? In „Now I'm Learning to Love the War“ singt der US-Folkrock-Musiker Father John Misty über den ökologischen Fußabdruck, den Kultur hinterlässt. Es brauche eine schockierende Menge Öl, um eine Schallplatte herzustellen: den Transport, die Zellophanhülle, die Druckfarbe für das Cover und natürlich – das Vinyl selbst. Dabei ist Father John Misty in einem Genre unterwegs, dessen Fans sich besonders gerne kiloweise Polyvinylchlorid, also PVC, in die Regale stellen. Einen Kunststoff, der schon bei der Produktion umwelt- und gesundheitsgefährdend ist, beim Recycling Probleme bereitet und bei der Verbrennung giftige Gase freisetzt.

Verheizen und zum Wertstoffhof bringen ist zwar das Allerletzte, was Sammler mit ihren Schätzen tun wollen, angesichts des Vinylbooms drängt das Thema. Seit 2006 sind die Verkäufe der (meist) schwarzen Scheiben nahezu kontinuierlich gestiegen. In Deutschland betrug der Umsatz mit Schallplatten im Jahr 2020 nahezu 100 Millionen Euro, was gegenüber 2015 eine Verdopplung darstellt. Diese Zahlen beruhen zwar auch auf Preissteigerungen (inzwischen sind 25 bis 35 Euro für Doppel-LPs üblich), dennoch bedeuten sie auch: mehr PVC.

Es ist ein Dilemma: Die Schallplatte steht für echtes Interesse an der Musik, für „achtsames“ Hören, aber eben auch für Umweltverschmutzung und Ressourcenverbrauch. Das hat die Branche durchaus erkannt, zumindest gibt es einige Ansätze, die Ökobilanz etwas zu verbessern, auf einigen Plattenhüllen versprechen inzwischen Aufkleber einen umweltfreundlichen Inhalt.

Das Berliner Label City Slang etwa hat dieses Jahr Alben von Casper Clausen und Noga Erez auf Recycling-Vinyl veröffentlicht. „Das ist kein Thema, das wir ausschlachten wollen“, sagt Production Manager Tim Pagel. Das Label bemühe sich insgesamt, die eigenen Produkte ökologischer zu gestalten. „Die Künstler fragen danach und freuen sich, wenn wir ihnen so etwas anbieten können.“ Abgesehen davon sehe das bunte Recycling-Vinyl „super aus und ist eine Möglichkeit, etwas Wichtiges zu sagen“.

Hergestellt werden solche Schallplatten mit grünem Gewissen unter anderem bei R.a.n.d.muzik in Leipzig, einem von nur einer Handvoll Presswerke in Deutschland. Die Sachsen verwenden nur noch für Singles und schweres 180-Gramm-Vinyl sogenanntes „Virgin Vinyl“, also Frischmaterial, die Standard-LPs und -Maxis werden aus „Regranulat“ produziert, also aus den abgeschnittenen Rändern anderer Pressungen, fehlerhaften Exemplaren und anderen Überschüssen.

Das Problem: Es gibt derzeit keine Möglichkeit, wiederverwertetes PVC aus anderen Quellen zu benutzen. Recycling-Vinyl ist also nur dadurch verfügbar, dass reichlich Schallplatten aus „Virgin Vinyl“ gepresst werden. Diese sind ökologisch nicht nur wegen des verwendeten Kunststoffs fragwürdig: Es gibt nur noch wenige Lieferanten für das PVC-Granulat, viele Presswerke beziehen den Rohstoff von einem thailändischen Unternehmen, dem von Greenpeace rücksichtslose Umweltverschmutzung vorgeworfen wird. Der Musikwissenschaftler Kyle Devine kam in seinem Buch „Decomposed“ (2019) zu einem harten Urteil: Die Musikindustrie sei ein Teil des internationalen Petrokapitalismus.

Verschiedene Akteure suchen allerdings nach Auswegen. Ein niederländisches Konsortium namens „Green Vinyl Records“ arbeitet unter anderem an energiesparenden Produktionsverfahren (Spritzguss statt Pressung) – und untersucht neue Materialien. Wird die Schallplatte künftig vielleicht gar nicht mehr aus Polyvinylchlorid sein, sondern aus einem anderen, umweltfreundlicheren Kunststoff?

Ersetzt PLA in Zukunft PVC?

Kandidaten gibt es, wie Produktdesigner Alex Rex aus Halle an der Saale sagt. Der gebürtige Cottbusser beschäftigte sich in seiner Studienzeit mit Alternativen zum Vinyl – und entdeckte PLA, das aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt und in industriellen Anlagen kompostierbar ist. In Sachen Qualität und Haltbarkeit sehe es gut aus für die PLA-Platte, das Material sei nur etwas spröder als Vinyl. Leider, sagt Rex, ruhe seine Arbeit am Thema derzeit. Das liege daran, dass es ihm an Geld, Zeit und Manpower fehle, aber auch daran, dass die Presswerke ungern Experimente an und mit ihren Maschinen zulassen. Die Anlagen seien überwiegend Jahrzehnte alt – und wegen der hohen Nachfrage im Dauerbetrieb.

Aber ist die Schallplatte, aller Wiederbelebung zum Trotz immer noch ein Nischenprodukt, wirklich ein so gravierender Faktor in Sachen Umweltzerstörung? Alex Rex sieht sie als Symbol: „Die Schallplatte ist ein populäres Produkt“, sagt er. Ihm sei es in seinem Projekt darum gegangen, auf die Notwendigkeit eines Wechsels der Kunststoffe insgesamt hinzuweisen. Vinylsammler und -produzenten müssen also nicht vor schlechtem Gewissen vergehen, sondern können so wie Father John Misty selbstironisch auf ihre Leidenschaft blicken. Wenn es Zeit ist zu gehen, singt er in „Now I'm Learning to Love the War“, werde er wenigstens etwas zurücklassen, das sich nicht kompostieren lasse.

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Erstellt:
24.08.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 18sec
zuletzt aktualisiert: 24.08.2021, 06:00 Uhr

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