Arbeit

Schneller Sprung auf zwölf Euro

Mitte 2022 könnte der Mindestlohn deutlich steigen. Das ist ein zentrales Anliegen der SPD. Über die Auswirkungen wird spekuliert – etwa ob das Arbeitsplätze kostet.

20.10.2021

Von Dieter Keller

Die Entwicklung der vergangenen Jahre. Grafik: Peters, Quelle: Statista

Die Entwicklung der vergangenen Jahre. Grafik: Peters, Quelle: Statista

Vor allem Beschäftigte in Branchen mit niedrigem Lohnniveau wie im Friseurhandwerk könnten profitieren. Foto: ©Unai Huizi Photography/shutterstock.com

Vor allem Beschäftigte in Branchen mit niedrigem Lohnniveau wie im Friseurhandwerk könnten profitieren. Foto: ©Unai Huizi Photography/shutterstock.com

Partnerschaft bedeutet ein Geben und Nehmen“ – so begründete FDP-Chef Christian Lindner das Zugeständnis der Liberalen an die SPD in den Sondierungsgesprächen, einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde zu akzeptieren. Das war eines der zentralen Wahlkampfversprechen des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, und auch die Grünen hatten sich dafür starkgemacht. So heißt es jetzt im Ergebnis der Sondierungen: „Wir werden den gesetzlichen Mindestlohn in einer einmaligen Anpassung auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen.“ Das könnte wohl frühestens am 1. Juli 2022 wirksam werden.

Wie ist derzeit der Stand? Der Mindestlohn wurde nach langen Diskussionen von der Großen Koalition am 1. Januar 2015 eingeführt. Er startete mit 8,50 Euro pro Stunde. Die Mindestlohnkommission überprüft alle zwei Jahre die Höhe. In ihr sind je drei Vertreter von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie ein neutraler Vorsitzender stimmberechtigt. Hauptmaßstab ist die Entwicklung der Löhne.

Wie kommen die Parteien auf zwölf Euro? Zum einen ist es das Ziel des Mindestlohns, ein „armutsfestes, existenzsicherndes Lohnniveau“ zu gewährleisten. Als Maßstab gelten 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Arbeitnehmer – ein international gebräuchlicher, wenn auch letztlich willkürlicher Wert. Aktuell wären das in Deutschland 12,42 Euro, so Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Zum anderen gibt es die Forderung, der Lohn müsse hoch genug sein, um Altersarmut zu vermeiden. Keiner solle auf Grundsicherung im Alter angewiesen sein. Bei zwölf Euro kämen nach 45 Berufsjahren etwa 950 Euro Rente im Monat zustande, hat der Bundesverband der Rentenberater ermittelt.

Welche Rolle spielt Europa? Die EU-Kommission würde gerne Vorgaben für einen Mindestlohn in der ganzen Gemeinschaft machen – nicht als absoluten Betrag, sondern 60 Prozent des mittleren Lohns des jeweiligen Landes. Anfang des Jahres gab es in 6 der 27 Mitgliedsländer keinen gesetzlichen Mindestbetrag, so eine Übersicht des WSI. Allerdings ist umstritten, ob die EU überhaupt zuständig ist.

Wie viele würden profitieren? Etwa zehn Millionen Arbeitnehmer, schätzt das Bundesarbeitsministerium. Davon wären rund ein Drittel Minijobber, wie andere Zahlen zeigen. Etwa jeder vierte Beschäftigte bekäme mehr Stundenlohn. Zwei Drittel der Begünstigten wären Frauen. In Ostdeutschland bekäme gut ein Drittel der Beschäftigten mehr Geld, also besonders viele. Besser dran wären nicht nur Arbeitnehmer in Branchen mit traditionell niedrigen Löhnen wie dem Gastgewerbe oder dem Einzelhandel, erwartet das WSI, sondern auch etwa in Arztpraxen, Anwaltskanzleien oder in den Büroetagen.

Drohen Jobverluste? Die Befürworter rechnen nicht damit. Sie verweisen auf die Einführung des Mindestlohns, die nicht zum Verlust von hunderttausenden von Arbeitsplätzen geführt habe, wie manche Wirtschaftsforscher gewarnt hatten. Die Minijobs nahmen zwar etwas ab, dafür wurden aber mehr reguläre Jobs geschaffen, wofür allerdings der langanhaltende Aufschwung der Hauptgrund war. Jetzt hoffen die Befürworter von zwölf Euro, dass es genauso läuft. Das Ministerium führt eine Studie an, wonach die Löhne insgesamt um 17,9 Milliarden Euro im Jahr steigen. Durch Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge kämen 10,9 Milliarden Euro zusätzlich in die öffentlichen Kassen. Die gesamtwirtschaftliche Produktion stiege um mindestens 50 Milliarden Euro.

Was bedeuten das für Minijobs? Bei der aktuellen Obergrenze von 450 Euro pro Monat dürften Minijobber nur noch 8,5 Stunden pro Woche arbeiten. Daher hat die FDP eine Flexibilisierung ausgehandelt: Die Grenze soll so erhöht werden, dass zehn Stunden möglich sind, was 520 Euro ergäbe.

Was sagen die Tarifpartner? Die Gewerkschaften sind begeistert: Sie fordern schon lange mindestens zwölf Euro. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger dagegen beklagte einen „schweren Eingriff in die Tarifautonomie“, der „brandgefährlich“ sei. Er würde in über 190 Tarifverträge eingreifen und „eine enorme Lohnspirale nach oben erzeugen und somit den Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte unheimlich erschweren“. Andere Kritiker bemängeln, dass die Politik bei Einführung des Mindestlohns versprochen habe, sich nach der Festlegung auf

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Erstellt:
20.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 57sec
zuletzt aktualisiert: 20.10.2021, 06:00 Uhr

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