Mit Engelszungen

Schnee schippen mit 105, bevor OB Bosch zu Besuch kommt

1912 ist das englische Luxusschiff „Titanic“ auf einen Eisberg aufgelaufen, in Deutschland stand Kaiser Wilhelm II. an der Spitze des Reiches, in Schweden erhielt der Dramatiker Gerhart Hauptmann den Literaturnobelpreis – und in Reutlingen kam am 8. Januar Karl Maier auf die Welt. Mit 105 Jahren ist er mittlerweile die älteste Person in Reutlingen, gestern hat ihm OB Barbara Bosch gratuliert.

10.01.2017

Von Thomas de Marco

Bei der Begrüßung fällt dem in der Albstraße 7 aufgewachsenen Mann sofort eines auf: „Ihre Hand ist ja so kalt!“ Dann wendet er sich der OB zu, die Pralinen dabei hat – und zwar, wie von Maier gewünscht, „lieber kleine, dafür mehr.“ Kaum zu glauben, dass der Mann, der da im Sessel sitzt, morgens noch Schnee geschippt hat und mit seinem Elektromobil „Charly“ vom Steinenberg kilometerweit bis nach Pfullingen zum Supermarkt fährt. Zumeist problemlos, nur im vergangenen Jahr musste der Mann seiner Enkelin einen Blechschaden reparieren – und steht seither beim ältesten Reutlinger Einwohner hoch im Kurs.

Bis 1972 hat Maier sein Straßenbau-Unternehmen in der Bismarckstraße in vierter Generation geführt. Der 1937 auf einer Baustelle tödlich verunglückte Vater hatte 1912, in Maiers Geburtsjahr, noch die Wilhelmstraße gepflastert. Der Sohn verlegte dann alleine die Pflaster – 1929 etwa auf der Karlstraße Richtung Metzingen. „Ich habe jeden Tag gut 600 Steine verschafft, dafür haben acht Stunden am Tag nicht ausgereicht“, erinnert sich der hochbetagte Senior an die Zeit, als er Melaphyr-Stein aus der Pfalz oder Granit gesetzt hat.

Wenn er erzählt, verrutschen ihm immer wieder die dritten Zähne. „So was ist nun ein Gebiss für 4000 Euro!“, nuschelt er dann. Und erinnert sich an die Zeit, bevor er von 1950 an das Familien-Unternehmen weitergeführt hat. 1942 sind ihm 15 Kilometer vor Leningrad fast die Füße abgefroren, dann kam er mit dem Lazarettzug zurück. Doch schon im Januar 1945 wurde er wieder kv geschrieben – kriegsverwendungsfähig. Maier musste in der Endphase des Kriegs noch nach Belgien, wurde in Remagen gefangen genommen und war wenige Wochen später einer von 60, die das Lager mit 700 000 Gefangenen als erste verlassen durfte.

„Ich habe viel mitgemacht – und jetzt bin ich immer noch da!“, sagt der älteste Reutlinger stolz. Mit seiner 1994 verstorbenen Frau Babette hat er zwei Zwillingssöhne groß gezogen, vier Enkel und acht Urenkel sind dazugekommen. Als OB Bosch sich fürs nächste Jahr mit ihm verabreden will, sagt Maier skeptisch, das könne er nicht unterschreiben: Denn sein Herz mache nicht mehr richtig mit, meint er seufzend. Mehrmals sei er vergangenes Jahr in Kliniken gewesen, zu machen sei da nichts mehr.

Immerhin hat er sich gestern wesentlich fitter gefühlt als an seinem Geburtstag am Sonntag – der Besuch der OB habe ihm Auftrieb gegeben, betont eine Enkelin. Und dann, beim Abschied, stellt Maier zufrieden fest: „Jetzt ist Ihre Hand aber warm geworden!“

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Erstellt:
10.01.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 18sec
zuletzt aktualisiert: 10.01.2017, 01:00 Uhr

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