London

SWP-Leitartikel: Wirtschaft verzweifelt

Die Briten treiben den Teufel mit dem Beelzebub aus. In den 100 Tagen nach Ende der Übergangsphase und dem vollzogenen Austritt aus der EU hat das Corona-Virus den Brexit- Spaltpilz in der öffentlichen Diskussion fast völlig in den Hintergrund verdrängt.

10.04.2021

Von HENDRIK BEBBER

Brexit-Stau an der Grenze: Lastwagen fahren zum Check-in in das Terminal am Hafen in Dover. Foto: JUSTIN TALLIS / AFP

Brexit-Stau an der Grenze: Lastwagen fahren zum Check-in in das Terminal am Hafen in Dover. Foto: JUSTIN TALLIS / AFP

London. Die Folgen der Trennung sind damit nicht vom Tisch. Sie bringen sich jetzt mit den Gewaltsorgien in Nordirland wieder in Erinnerung. Das neue Verhältnis zu „unseren europäischen Freunden und Partnern“ – so Boris Johnson – dokumentiert ein Prozess der EU gegen das Vereinigte Königreich wegen Verstößen gegen die Vertragsklauseln. Und viel böses Blut fließt wegen des Streits um die Impfstoffe. Hier hatte sich das Königreich mit Hedgefonds-Taktik den Löwenanteil gesichert und den „Brüsseler Bürokraten“ mit den überaus erfolgreichen Massenimpfungen eine peinliche Lektion erteilt. Dies gilt hierzulande als weiterer Beweis dafür, wie segensreich sich die Scheidung auf den abgesprungenen Partner auswirkt.

Die Hoffnung, dass der Handel zwischen dem Königreich und der EU nach dem Deal reibungslos weitergehen würde, erwies sich vorläufig als Illusion. Laut der jüngsten offiziellen Statistik ist die Ausfuhr britischer Produkte in die EU um 40,7 Prozent abgestürzt. Umgekehrt beträgt der Handelseinbruch 28,8 Prozent. Britische Exporteure und Speditionsfirmen verzweifeln an den hohen Kosten und dem Papierkrieg, Fische und Krustentiere vergammeln in den Transportern und viele Trawler haben den Fang vorläufig eingestellt, weil sie die europäischen Märkte nicht mehr rechtzeitig beliefern können. Ähnliche Sorgen haben die Bauern, die auf ihren Schweinehälften und Lammschlegeln sitzen bleiben.

Für Boris Johnson sind dies nur „Zahnungsprobleme“, die bald vergehen, wenn die britische Wirtschaft wieder voll zubeißen kann. Auf makabere Weise dient die Epidemie der Regierung zur Ablenkung von der Diskussion um die Folgen des Austritts. Für die Schließung traditioneller Warenhausketten und die Verlagerung von Betrieben aus dem „Drittland“ in den europäischen Binnenmarkt wird nicht der Brexit verantwortlich gemacht, sondern Covid-19. Was die Wahrheit ist, wird sich wohl erst einige Zeit nach der Pandemie zeigen. Laut einer Umfrage der Universität Oxford bei internationalen Experten wird die britische Wirtschaft 2030 um einiges schlechter dastehen, als wenn das Königreich in der EU verblieben wäre.

Dieses mulmige Gefühl zeigt sich auch in den allgemeinen Meinungsumfragen, in denen jetzt 53 Prozent der Briten für die EU-Mitgliedschaft stimmen würden. Viele fürchten nun, dass langfristig nicht nur die Wirtschaft und damit auch der Arbeitsmarkt durch den Brexit Schaden erleidet, sondern auch die Integrität des britischen Staatsverbandes. Schottland, das mit großer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt hatte, steuert nun mit aller Macht auf den Austritt aus dem „Vereinigten Königreich“ zu. Und in Nordirland wächst das Begehren auf eine Wiedervereinigung mit der Republik.

leitartikel@swp.de

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Erstellt:
10.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 15sec
zuletzt aktualisiert: 10.04.2021, 06:00 Uhr

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