Pandemie-Bekämpfung

Plötzlich ziehen die Richter mit

Die Justiz entscheidet inzwischen immer häufiger im Sinne der Behörden – auch weil die Infektionszahlen explodiert sind, sagt ein Verfassungsrechtler.

23.11.2020

Von MICHAEL GABEL

Notlösung Außer-Haus-Verkauf: Restaurants mussten erneut ihren Betrieb herunterfahren. Foto: Jörg Carstensen/dpa

Notlösung Außer-Haus-Verkauf: Restaurants mussten erneut ihren Betrieb herunterfahren. Foto: Jörg Carstensen/dpa

Berlin. Die Pandemie lähmt zwar die Wirtschaft. Aber für die Justiz bedeutet die Krise Mehrarbeit. Rund 600 Eilanträge gegen das neuerliche Herunterfahren des öffentlichen Lebens hat der Deutsche Richterbund seit Anfang November gezählt. Seit Beginn der Pandemie gab es etwa 6000 Klagen und Eilanträge. Was auffällt: Die Gerichte geben den Behörden inzwischen öfter Recht. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

1 Worum ging es bei den ersten Verfahren seit dem neuerlichen Teil-Herunterfahren? Theaterbesitzer Didi Hallervorden, die Veranstalterin eines Goldschmiedekurses, ein Urlauberpaar auf Sylt – sie alle stellten Eilanträge bei Verwaltungsgerichten. Jeweils ohne Erfolg. Die Argumentation der Gerichte lautete stets ähnlich: Die Infektionslage habe sich dramatisch verschlechtert. Insofern seien die jeweiligen Vorgaben „nicht unverhältnismäßig“. Beim Theater sei das Problem der lange Aufenthalt in einem geschlossenen Raum. Ein Goldschmiedekurs gelte als Freizeitveranstaltung. Und das Beherbergungsverbot auf Sylt sei geeignet, um die Pandemie abzuschwächen. Bei Urteilen zu Gaststätten zeichnet sich dieselbe Entwicklung ab: Hatten Mitte Oktober Berliner Gastronomen mit Eilanträgen gegen Schließungen noch Erfolg, so lehnten Gerichte einen Monat später ähnliche Anträge ab.

2 Wieso hat sich die Haltung der Gerichte seit Sommer und Frühherbst zum Beispiel bei Beherbergungsverboten so deutlich geändert? Der Verfassungsrechtler Lars Viellechner nennt als Grund die „veränderte Tatsachengrundlage“. „Im Sommer hatten die Infektionszahlen abgenommen, jetzt steigen sie wieder. Das kann dazu führen, dass Maßnahmen, bei denen man im Sommer noch gesagt hat, sie seien unverhältnismäßig, inzwischen anders zu beurteilen sind“, erläutert der Professor an der Universität Bremen im Gespräch mit dieser Zeitung. Versäumt worden sei allerdings lange Zeit, die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf eine sichere rechtliche Grundlage zu stellen.

3 Warum kommt es aber auch jetzt noch zu unterschiedlichen Entscheidungen – so wird innerhalb weniger Tage in einem Bundesland das Verbot, Fitnessstudios offenzuhalten, gekippt, im anderen nicht? Viellechner verteidigt das mit dem Hinweis auf mögliche regionale Besonderheiten. „Wegen der föderalen Struktur der Bundesrepublik befassen sich die jeweiligen Landesgerichte mit den Anträgen. Wenn dann zum Beispiel die Infektionslage unterschiedlich ist, können auch die gerichtlichen Entscheidungen unterschiedlich ausfallen.“

4 Ist das Hin und Her ein Zeichen dafür, dass in unserem Rechtsstaat etwas nicht stimmt? Der Bremer Rechtsprofessor sieht das nicht so. „Die Stärke des Föderalismus ist es, dass die Regelungen an die regionalen Umstände angepasst werden können“, sagt er. Zudem hätten die Gerichte auch Auslegungsspielräume. Diese würden aber dadurch „nivelliert, dass es Instanzenzüge gibt und oberste Bundesgerichte, die auf Bundesebene für eine gewisse Rechtseinheit sorgen“.

5 Welche Rolle spielt das jetzt beschlossene überarbeitete Infektionsschutzgesetz? Unter Juristen herrscht weitgehend Einigkeit, dass es allerhöchste Zeit war, den Infektionsschutz auf eine neue, vom Parlament per Gesetz beschlossene rechtliche Grundlage zu stellen. Inwieweit diese jetzt trägt, ist offen. Nach Einschätzung des früheren nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtspräsidenten Michael Bertrams verstößt die Novelle gegen das Grundgesetz. Er kritisiert, dass in dem Gesetz Corona-Maßnahmen aufgelistet würden, „ohne jede Abwägung mit den betroffenen Freiheitsrechten“. So werde zum Beispiel nicht klar, warum ausgerechnet die Schließung von Restaurants etwas zur Eindämmung der Pandemie beitragen soll. Es wird damit gerechnet, dass der Streit über das überarbeitete Infektionsschutzgesetz am Ende vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen wird.

6 Sind durch die häufige Beschäftigung mit Pandemie-Themen die Gerichte für andere Verfahren blockiert? Ganz so dramatisch ist es nicht. Es hänge davon ab, „wie viele weitere Verfahren in den nächsten Wochen und Monaten auf Gerichte und Staatsanwaltschaften zukommen“, heißt es beim Deutschen Richterbund. Betroffen seien vor allem die Verwaltungsgerichte. „Aber auch auf die Arbeitsgerichte könnten in großer Zahl Kündigungsschutz- und Zahlungsprozesse zukommen, während die Zivilgerichte zusätzliche Klagen wegen der wirtschaftlichen Folgen von Corona-Auflagen erwarten.“ Die Strafjustiz ist mit der Pandemie insofern beschäftigt, als Verdachtsfälle wegen erschlichener Corona-Soforthilfen bearbeitet werden. Engpässe sieht der Richterbund weniger wegen der Zahl der Verfahren als wegen der Eilbedürftigkeit, die „eine starke Arbeitsbelastung für die zuständigen Richterinnen und Richter“ zur Folge habe.

BEACHTEN: NPG-LIZENZ 712257520 Hammer, Hoz, Waage, Buch, Tisch, Justiz Symbol of law and justice, law and justice concept image Download am 11.02.2019 für Kollektive, Kostenstelle: NPG012006 Foto: © Chodyra Mike/Shutterstock.com Foto: ©Chodyra Mike/Shutterstock.com

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Erstellt:
23.11.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 02sec
zuletzt aktualisiert: 23.11.2020, 06:00 Uhr

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