Corona · Interview

Philosoph zu Einschränkungen: „Ein moralischer Dammbruch“

Der Staat, der Freiheit einschränkt, um Bürger zu schützen, ist in Deutschland erwünscht, Briten und Amerikanern aber fremd, sagt der Philosoph Christian Illies.

27.11.2021

Von Dominik Guggemos

 Volle Stadien, keine Masken. In den USA ist das auch bei hohen Inzidenzen Alltag.   Foto: Scott Taetsch/Getty Images/afp

 Volle Stadien, keine Masken. In den USA ist das auch bei hohen Inzidenzen Alltag.  Foto: Scott Taetsch/Getty Images/afp

Großbritannien verzichtet auf jegliche Corona-Maßnahmen. Anfang September fanden in den USA bei einer Inzidenz von 350 Konzerte und Football-Spiele mit über 100 000 Zuschauern statt, ohne 2G und Masken – in Deutschland undenkbar. Warum ist das so? Christian Illies, Professor für Philosophie an der Universität Bamberg, erklärt, wie große Denker des 18. Jahrhunderts die Politik heute prägen.

Großbritannien hat eine vergleichbare Impfquote und ähnliche Inzidenzen wie Deutschland, aber keinerlei Maßnahmen. Hierzulande wird über Lockdowns diskutiert. Wie viel philosophische Tradition steckt in diesem Unterschied?

Christian Illies: Für die konkreten Maßnahmen ist die Politik entscheidend. Aber der Liberalismus, der sich dort mit der utilitaristischen Tradition verbindet, spielt sicher eine Rolle bei der Empfindlichkeit der Briten gegenüber einem zu starken Staat. In Deutschland schauen wir auf Kant und die Würde des Einzelnen. Das führt dann auch zu einer anderen Auffassung darüber, was der Staat leisten soll und gesteht ihm tendenziell mehr Fürsorgerechte zu.

Deutschlands Rechts- und Wertesystem, angefangen beim Grundgesetz, ist sehr durch Immanuel Kant geprägt. Worin zeigt sich das mit Blick auf die Covid-Bekämpfung?

Kant stellt die absolute Würde aller Menschen ins Zentrum seiner Theorie. Das entwickelt eine großartige Stärke, wenn es darum geht, das Individuum und seine Probleme ernst zu nehmen, wird aber problematisch, wenn es um Abwägungen zwischen Menschen geht, die ja alle eine unverhandelbare Würde haben. Das zeigt unsere intensive Diskussion um die Triage, mit der wir uns im Vergleich zu anderen Ländern besonders schwertun.

Häufig wird hier mit Skepsis auf den liberalen Utilitarismus geschaut, also die Maximierung des Nutzens für die Gesellschaft, an dem sich die USA und Großbritannien orientieren. Zu Recht?

Der reine Utilitarismus ist eine gefährliche Staatsphilosophie, weil er keinen Schutz des Einzelnen in sich trägt. Wir finden das in China, wo der gesellschaftliche Nutzen komplett über die Rechte des Individuums gestellt wird. Das ist erschreckend. In Großbritannien und den USA wird der Utilitarismus aber schon seit John Stuart Mill mit dem Liberalismus verbunden, so entsteht ein Schutzraum für die freie Selbstbestimmung.

Wir erleben vor allem eine Pandemie der Ungeimpften. Denkbar wäre im Sinne des Utilitarismus, dass die geimpfte Mehrheit vorschlägt: Wir verpflichten euch nicht zur Impfung, dafür müsst ihr in Kauf nehmen, dass bei einer Überlastung des Gesundheitssystems priorisiert diejenigen behandelt werden, die sich mit der Impfung geschützt haben. Hätten Sie da ethische Bedenken?

Grundsätzlich kann ein solches Modell aus meiner Sicht Anwendung finden, wenn es um begrenzte Ressourcen geht, zum Beispiel bei Organtransplantationen. Dort gibt es eine enorme Diskrepanz zwischen der geringen Bereitschaft zu spenden und der Bereitwilligkeit, im Notfall selbst Organe zu erhalten. Menschen, die sich als postmortale Spender registriert haben, etwas höher auf die Warteliste zu setzen, wäre vertretbar, wenn es von Anfang an kommuniziert würde. Das ist insofern fair, als dass die freie Entscheidung der Menschen ernst genommen wird. In Bezug auf die Pandemie diesen Gedanken zu übernehmen, wäre zwar ethisch vertretbar, aber wohl nicht praxistauglich. Ein Arzt muss bei einer Triage sehr schnell entscheiden, die Überlebenschancen einschätzen – was schwer genug ist – und sieht dem Kranken nicht unbedingt an, ob er geimpft ist. Außerdem droht ein moralischer Dammbruch, wenn nicht die Überlebenschancen, sondern die Überzeugungen des Patienten entscheiden, ob er behandelt wird.

Prof. Christian Illies von der Uni Bamberg. Foto: Universität Bamberg

Prof. Christian Illies von der Uni Bamberg. Foto: Universität Bamberg

Wie würde Kant denn zu einer Impfpflicht stehen?

Wenn eine Impfung nachweislich der beste Schutz für sich selbst und andere ist, würde Kant die Impfung als moralische Pflicht sehen. Und wegen der Gefährdung anderer wohl auch als eine staatliche.

Mit dem Ausspruch: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ hat Kant das Leit­motiv der Aufklärung geliefert. Was hätte er Menschen gesagt, deren Mut sich dadurch zeigt, entgegen aller wissenschaftlicher Evidenz das Risiko einer Impfung höher zu bewerten als das Risiko einer Infektion?

Grundsätzlich würde er sagen, dass es gut ist, skeptisch zu sein. Allgemeine Meinungen kritisch zu hinterfragen, ist allemal besser, als sie ungefragt zu übernehmen. Bei der Impffrage ist es schwierig, angesichts von sich wandelnden Fachmeinungen und einem teilweise aufgeheizten Journalismus, einen klaren Kopf zu behalten. Aber den Verstand zu nutzen heißt, ernsthaft und sorgfältig zu denken, also wissenschaftliche Erkenntnisse ernst zu nehmen. Und ich denke, die sprechen im Moment für die Impfung.

Zum Artikel

Erstellt:
27.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 13sec
zuletzt aktualisiert: 27.11.2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Recht und Unrecht
Sie interessieren sich für Berichte aus den Gerichten, für die Arbeit der Ermittler und dafür, was erlaubt und was verboten ist? Dann abonnieren Sie gratis unseren Newsletter Recht und Unrecht!