Tübingen · Theater

Mitten unter uns

Das NSU-Gerichtsdrama „Aus dem Nichts“ kam auf die Bühne des Schillersaals im Tübinger Museum.

11.11.2019

Von ach

Am 9. Juni 2004 verübte die rechtsradikale Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) einen Bombenanschlag in der mehrheitlich von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnten Kölner Keupstraße. Die Polizei schloss lange ein neonazistisches Motiv aus und suchte die Täter im Umfeld der Opfer. Regisseur Fatih Akin verfolgte 2013 den NSU-Prozess und empörte sich: „Polizei, Gesellschaft und Medien waren überzeugt gewesen, dass die Täter Türken oder Kurden sein mussten, dass irgendeine Mafia dahintersteckte.“ 2017 entstand sein Politthriller „Aus dem Nichts“, der am Donnerstag im Schillersaal in einer Bühnenadaption und Inszenierung von Miraz Bezar zu sehen war – ein Gastspiel des Stadttheaters Schweinfurt.

Freispruch aus Mangel an Beweisen

Katja Sekerci (darstellerisch intensiv und emotionsstark: Anna Schäfer) verliert bei einem Bombenanschlag in Hamburg ihren kurdischstämmigen Ehemann Nuri und den gemeinsamen Sohn Rocco. Selbst Katjas Mutter (Maika Troscheit) ist sicher, dass Nuri in kriminelle Geschäfte verwickelt war, „vielleicht sogar ein Schläfer!“ Angefeindet wird Katja von Nachbarn, deren Angehörige bei dem Attentat verletzt wurden. Die Polizei geht von einem Racheakt innerhalb der Drogen-Mafia aus. Das schließlich gefasste rechtsextremistische Täterpaar (Philip Wilhelmi und Constanze Aimée Feulner) wird „aus Mangel an Beweisen“ freigesprochen. Katjas Anwalt (Mathias Kopetzki) wird zurechtgewiesen, nicht die „Nazikeule“ auszuspielen.

Zuletzt stellt sich heraus, dass an der Tat ein „unverzichtbarer“ V-Mann des Verfassungsschutzes beteiligt war, der „wegen einer so banalen Tat“ aus Gründen des „Quellenschutzes“ nicht enttarnt werden darf. Ein Staatssekretär (Christian Meyer) erklärt den 150 Zuschauern im Schillersaal, dass hier „Staatswohl vor Aufklärung“ geht und „das Recht der Politik zu folgen hat.“ 50 Seiten Ermittlungsakten landen im Reißwolf.

Ein notwendig relevantes Thema und eine beklemmende Inszenierung, die den schnell(vergessen)en Medienbildern eine körperliche, schmerzhafte Präsenz gibt. Bühnenbild und Kostüm sind weitgehend in Schwarz-Weiß gehalten (Ausstattung: Monika Maria Cleres). Die sieben Schauspieler/innen wechseln in bis zu vier Rollen: Beeindruckend Martin Molitor als Kommissar, dann als Vater des Tatverdächtigen sowie zuletzt als Entlastungszeuge, der den Tätern ein falsches Alibi gibt.

Die Wende hin zum Rachedrama (im Film sprengt sich Katja mit dem Täterpaar in die Luft) wird in der Theaterfassung nur als surrealer Traum angedeutet. Das Ende bleibt offen für Interpretation und Diskussion. Während der Film seinen Blick auf ein internationales Terrornetzwerk weitet, aktualisiert die Bühnenversion die Thematik hin zu NSU-Nachfolgeorganisationen wie „Nordkreuz“ oder „Hannibal“.

Besonders stark die eingespielten Video-Collagen von Philipp Figueroa, darunter ein rasanter Lauf durch 30 Jahre Bundesrepublik seit dem Mauerfall. Zuletzt wurden Fotos, Namen und Lebensdaten aller NSU-Opfer gezeigt. Erwähnt seien auch die aufwändig recherchierten dokumentierenden Programmhefttexte.

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Erstellt:
11.11.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 19sec
zuletzt aktualisiert: 11.11.2019, 01:00 Uhr

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