Französische Filmtage

Mit dem Kopf woanders

Ein herausragender Dokumentarfilm aus der Pariser Banlieue befeuerte im Café Haag eine Tübinger Diskussion über Integration.

06.11.2017

Von Dorothee Hermann

Elf Jugendliche aus einem der ärmsten Vororte Frankreichs geben in der Doku „Swagger“ einen Eindruck vom Leben in der französischen Banlieue.Bild: Verleih

Elf Jugendliche aus einem der ärmsten Vororte Frankreichs geben in der Doku „Swagger“ einen Eindruck vom Leben in der französischen Banlieue.Bild: Verleih

Er war einer der bemerkenswertesten Beiträge der Französischen Filmtage: Die Dokumentation „Swagger“ lässt Kinder und Jugendliche aus einem der ärmsten Vororte im Nordosten von Paris zu Wort kommen. Man sieht den redegewandten Régis, der nur perfekt gestylt aus dem Haus geht. Mariyama hingegen hat sich so sehr zurückgezogen, dass sie vor der Kamera ihren Namen nicht herausbringt. Und dann ist da das erschreckend ernste Mädchen, die sich ihren eigenen Reim auf Micky Maus und die vielen blonden Barbie-Puppen macht. Sie sagt: „Niemand wohnt freiwillig in den Sozialsiedlungen.“

Regisseur Olivier Babinet hat vier Jahre lang in Aulnay-sous-Bois recherchiert und mit den Schülern des Collège Claude Debussy auch Fantasy- und Sciene-Fiction-Kurzfilme gedreht. Der Ort geriet Anfang des Jahres weltweit in die Schlagzeilen, nachdem vier Polizisten einen schwarzen 22-Jährigen derart brutal misshandelt hatten, dass er eine größere Notoperation benötigte.

Im Film kommen Polizeigewalt, Ausgrenzung, Benachteiligung oder Drogen nur vor, wenn die Jugendlichen es selbst ansprechen. Man sieht aber, wie das Viertel regelmäßig in Alarmstimmung verfällt, sobald Polizeiautos mit Blaulicht heranrasen.

Leider lief die Doku nur am Sonntagnachmittag, als Auftakt einer Diskussion über Integration im Café Haag – unter anderem mit Tübingens Erster Bürgermeisterin Christine Arbogast und der Sozialforscherin Françoise Lorcerie aus Aix-en-Provence.

Der Bauzeichnerlehrling Omeid Ahmadi, vor zwei Jahren aus Afghanistan in die Tübinger Gegend gekommen, hatte einen eigenen Blick auf den Film: „Alle waren Ausländer, keine Franzosen. Dann ist es schwierig mit Integration“, sagte er. Bei ihm selbst sei es anders: Ahmadi lebt in Weiler, in der Familie des Schreiners Hans Walter. „Die Jugendlichen im Film leben im Ghetto“, sagte Walter. „Omeid ist ein Familienmitglied geworden.“ Seine eigenen Kinder waren ausgezogen. „Ein Zimmer war frei. Ich wusste nicht, was daraus werden wird.“

Die Situation in Frankreich sei anders als in Deutschland, sagte die Sozialforscherin Lorcerie: „In Frankreich läuft die Ausgrenzung über das Wohnen, in Deutschland über die Arbeit.“ Über die Jugendlichen im Film sagte sie: „Sie fühlen, dass sie nicht als Franzosen wahrgenommen werden, sie spüren die Diskriminierung.“ Dabei zeige der Film gerade „die Normalität“ der Jugendlichen. „Sie sprechen Standardfranzösisch, keinen Slang.“ Doch ihre Identitäten seien komplex. „Rechtlich sind sie Franzosen. Aber sie fühlen sich nicht als Franzosen, und das ist ein großes Problem“, ergänzte der Tübinger Sozialwissenschaftler Seddik Bibouche.

Die Frage der Zugehörigkeit spiele auch in Tübingen eine sehr große Rolle, so Arbogast. Ein deutscher Pass sei dabei nicht allein ausschlaggebend. Dennoch sei der Pass wichtig für „das formale Ankommen in einem Land“. Das gelte erst recht für das Wahlrecht: die Möglichkeit, auch politisch mitzubestimmen.

„Niemand hat über die Arbeit gesprochen“, kritisierte ein Zuhörer. Die Ghettobildung in Frankreich sei das eine. Doch nun werde erneut von einer „verlorenen Generation“ gesprochen. „Diese Jugendlichen haben gute Schulabschlüsse. Sie können Französisch und bekommen trotzdem keine Stelle, weil die Firmen schon abwinken, wenn sie die Adresse sehen“, sagte er. „Migranten brauchen eine Chance, zu lernen und zu arbeiten. Dann wird auch das Zusammenleben funktionieren.“ Bibouche ergänzte: „Arbeit ist das beste Instrument für Integration, aber nicht das einzige.“

Der 23-jährige Syrer Ahmad Salah aus Damaskus sagte: „Wir waren gezwungen, hierher zu kommen, wir hatten keine Wahl.“ Es sei kompliziert zu verstehen, was mit Integration gemeint sei. Für ihn gehöre dazu Sicherheit. Einerseits hat er dabei die politischen Kräfteverhältnisse im Blick: „Was ist, wenn in vier Jahren die AfD die Mehrheit bekommt?“ Andererseits bedenkt er die psychologische Situation von Geflüchteten: „Sie können niemandem sagen, er soll sich integrieren, wenn seine Familie noch in Syrien ist.“ Solche Menschen seien „mit dem Kopf woanders“, sagte Salah. „Wenn ich mich sicher fühle, mache ich etwas“, sagte der 23-Jährige, der „ein bisschen schnell Deutsch gelernt“ hat. Kommendes Semester will er an die Uni gehen und Medieninformatik studieren.

Sein Landsmann Ahmad Abosh macht derzeit eine Ausbildung zum Lkw-Mechatroniker. Dem 21-Jährigen fehlt „eine Plattform in der Stadt“, wo Einheimische und Migranten miteinander reden können. Für Bewohner großer Flüchtlingslager wie in Reutlingen gebe es nur die Schule und das Essen. „Sie haben keine Kontakte zur deutschen Gesellschaft.“ Abosh kritisierte, dass auf Flüchtlinge Druck ausgeübt werde: „Ältere lernen die Sprache nicht so schnell“, sagte er. Wer jedoch keine Arbeit finde, sei eher von Abschiebung bedroht.

Es moderierte die Tübinger Journalistin Marianne Mösle. Andrea Le Lan dolmetschte aus dem Französischen.

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Erstellt:
06.11.2017, 18:05 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 16sec
zuletzt aktualisiert: 06.11.2017, 18:05 Uhr

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