Mitbestimmung

Mit 16 „reif“ fürs Wählen?

Viele Jugendliche wollen den Bundestag mitwählen. Die möglichen Ampel-Partner haben das als Ziel. Doch ohne das Ja der Union klappt das nicht.

29.10.2021

Von Michael Gabel und Ellen Hasenkamp

Die Teilnehmer der „Fridays for Future“-Demos, wie hier in Schwerin, fühlen sich wie viele andere junge Menschen von den Politikern zu wenig ernst genommen. Grüne und FDP wollen das ändern. Foto: Danny Gohlke/dpa

Die Teilnehmer der „Fridays for Future“-Demos, wie hier in Schwerin, fühlen sich wie viele andere junge Menschen von den Politikern zu wenig ernst genommen. Grüne und FDP wollen das ändern. Foto: Danny Gohlke/dpa

Berlin. Sie gehen zu Hunderttausenden auf die Straße und demonstrieren für mehr Klimaschutz, sie büffeln Politische Bildung oder Gemeinschaftskunde in der Schule und kennen die politischen Institutionen oft besser als Erwachsene. Manche engagieren sich sogar in den Nachwuchsorganisationen der Parteien. Aber den Bundestag mitwählen dürfen 16- und 17-Jährige nicht. Viele von ihnen empfinden das als ungerecht. Gerade jetzt, wo doch beim Klimaschutz ihre Zukunft auf dem Spiel steht.

Doch nun, so scheint es, ist mit den Verhandlungen zur Ampel-Koalition das Ü16-Wahlrecht zumindest ein kleines Stück nähergerückt. „Das Wahlalter für die Wahlen zum Deutschen Bundestag und Europäischen Parlament wollen wir auf 16 Jahre senken“, heißt es im von SPD, Grünen und FDP unterzeichneten Sondierungspapier.

Zumindest bei Bundestagswahlen dürfte eine Änderung allerdings schwierig werden. Denn um die entsprechenden Passage im Grundgesetz zu ändern, die das Wahlrecht an das vollendete 18. Lebensjahr knüpft, wird im Bundestag eine Zweidrittel-Mehrheit benötigt. Es müssten also außer der Linken, die die Reform unterstützt, auch einige Unions-Abgeordnete dafür stimmen. Bei CDU und CSU sind die Vorbehalte aber groß.

In Österreich gibt es bereits das landesweite Wahlrecht ab 16. Professor Bernhard Heinzlmaier, ein gebürtiger Wiener, der in Hamburg ein Jugendforschungsinstitut leitet, berichtet von positiven Erfahrungen, die man dort gemacht hat. Die Beteiligung bei den 16- und 17-Jährigen sei bei der vergangenen Nationalratswahl sogar deutlich größer gewesen als bei den Ü18-Erstwählern, sagt er dieser Zeitung. Bei der jüngeren Altersgruppe sei eben „die Freude groß gewesen, mitmachen zu dürfen“. Ob man mit dem Wahlrecht tatsächlich den Großteil der jungen Menschen dauerhaft für politische Themen begeistern könne, bezweifelt der Jugendforscher zwar. Aber dass manche Menschen in Abrede stellen, dass Jugendliche überhaupt „reif“ genug für Wahlentscheidungen seien, dafür hat Heinzlmaier kein Verständnis. „Da könnte man auch die Frage stellen, ob 85-Jährige an Wahlen teilnehmen dürfen.“

Dass sich in Deutschland vor allem Grüne und Liberale für ein Wahlrecht ab 16 einsetzen, hängt wohl auch damit zusammen, dass die beiden Parteien bei der Bundestagswahl bei Jungwählern (Alter von 18 bis 24) jeweils 22 Prozent der Stimmen geholt haben. Damit lagen sie klar vor SPD (14 Prozent), Union (10), Linken (8) und AfD (8). Der Stuttgarter Mathematik-Professor Christian Hesse hat für diese Zeitung ausgerechnet, welchen Effekt es auf das Wahlergebnis gehabt hätte, wenn die rund 1,5 Millionen 16- und 17-Jährigen hätten mitwählen dürfen (zugrunde gelegt ist ein gleiches Abstimmungsverhalten wie bei den Jungwählern). „Die Union hätte gegenüber dem tatsächlichen Ergebnis zwei Sitze eingebüßt, SPD und AfD je einen Sitz verloren. Hinzugewonnen hätten die Linke einen Sitz und Grüne und FDP je zwei“, sagt er. Die Behauptung der Gegner des Ü16-Wahlrechts, dass mit einem Herabsenken des Wahlalters die politischen Ränder gestärkt würden, ist damit zumindest stark relativiert.

„Breiter gesellschaftlicher Konsens“

In der Union gibt es noch andere Kritik: „Man kann kaum begründen, warum ein junger Mensch über die Geschicke eines Landes und einer Gesellschaft mitentscheiden soll, den wir in allen anderen Bereichen des Lebens für zu jung erachten, um seine Angelegenheiten ohne die Zustimmung seiner Eltern zu regeln“, argumentiert etwa der Innenpolitiker und Fraktionsvize Thorsten Frei (CDU). Soll heißen: Wer keinen Mobilfunkvertrag allein abschließen oder keinen Kinofilm ohne Jugendfreigabe sehen dürfe, der soll auch nicht wählen können. Frei verweist auf den „breiten gesellschaftlichen Konsens“ dafür, dass ein junger Mensch eben erst mit 18 Jahren als volljährig gilt.

Das heißt aber nicht, dass sich die Union nicht stärker um die Belange der Jugend kümmern will: Die Partei „kann und darf nicht ignorieren, dass die Union so schlechte Ergebnisse bei Erst- und Jungwählern hat“, stellte die Nachwuchsorganisation Junge Union erst vor wenigen Tagen fest. Eines wurmt sie besonders: „Wir müssen uns fragen, warum die FDP Jungwähler aus dem bürgerlichen Lager binden konnte und wir nicht.“

Als ein Grund dafür wird die „Fanbase“ von Parteichef Christian Lindner im jungen, bürgerlichen, netzaffinen Lager gesehen, der dort eine Art „Kultfigur“ sei. Ein Fazit der Parteijugend lautet daher: „Wir brauchen mehr junge und hier auch insbesondere mehr weibliche Köpfe, die mit unserer Generation auf Augenhöhe kommunizieren.“ Aber auch die nicht mehr ganz Jungen in der Partei wie der 58-jährige Bundestags-Abgeordnete Roderich Kiesewetter fordern ein besseres Angebot. „Wir haben uns ohne Not von der jungen Generation abgewendet – oder gar nicht kapiert, wie die Lebensrealität dieser Menschen aussieht.“

Nur das Ü16-Wahlrecht soll unangetastet bleiben. Oder doch nicht? Auf Landes- und kommunaler Ebene trägt die Union vielerorts mit, dass auch unter 18-Jährige bei Wahlen ihre Stimmen abgeben dürfen. Nicht ausgeschlossen also, dass einige Unions-Bundestagsabgeordnete dieses Modell am Ende auch für den Bund akzeptieren würden. Eine Handvoll würde reichen.

Ausnahmen gibt es bereits

In vier Bundesländern gilt das Ü16-Wahlrecht bei Landtagswahlen: in Bremen, Hamburg und mit Schleswig-Holstein und Brandenburg auch in zwei von der CDU (mit)regierten Bundesländern. Das grün-schwarz-regierte Baden-Württemberg könnte bald folgen. Bei Kommunalwahlen sind, außer in Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Sachsen, 16-Jährige schon seit Längerem wahlberechtigt. Bei Europawahlen dürfen 16- und 17-Jährige in Deutschland bisher noch nicht ihre Stimme abgeben. Um das zu ändern, ist aber keine Grundgesetzänderung nötig. Es reicht die Bundestagsmehrheit.

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Erstellt:
29.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 42sec
zuletzt aktualisiert: 29.10.2021, 06:00 Uhr

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