Mit Engelszungen…

Mein Weg in den analogen Untergrund

Als die Telefone noch eine Wählscheibe hatten, war die Erde vielleicht auch eine Scheibe, aber das Leben hatte einen Sinn.

10.03.2016

Von Matthias Reichert

Denn das Wählen der Nummern erinnerte an den immerwährenden Kreislauf von Werden und Vergehen, Ende und Neubeginn. Wenn die Leitung belegt war, musste man nicht durchdrehen, sondern konnte sich bei einem neuen Anlauf schön im Kreis bewegen.

Dann kam das Tastentelefon, und alles wurde anders. Gut weiß ich noch, wie das erste Tastentelefon in meinem Elternhaus für Aufregung sorgte, wie man plötzlich tippte, statt zu rotieren und der Überzeugung war, am Puls des Fortschritts die entscheidenden Knöpfe zu drücken.

In Reutlingen sind im August 1998 sämtliche Tastentelefone nach einem Großbrand bei der Telekom über Wochen ausgefallen – in einer Zeit, als kaum jemand ein Handy besaß. Das Ausmaß dieser Katastrophe können sich heutige Smartphone-Jünger gar nicht mehr vorstellen. Mittlerweile ist der Mensch ja rund um die Uhr erreichbar. Wer daheim noch ein nicht-mobiles Telefongerät stehen hat, wird fast schon belächelt.

Als Ende der 1980er-Jahre ISDN, das integrierte digitale Netz, die Herrschaft über die Anschlüsse übernahm, wurde vollmundig die Zukunft beschworen. Mit ISDN war alles schneller, besser, vernetzter und kommunikativer. Damit ist nun Schluss: ISDN wird 2017 von den meisten Anbietern abgeschaltet: Hoffnungslos veraltet, heutzutage telefoniert man via Internet.

Im Internet braucht man keinen Hörer in der Hand mehr. Das analoge Telefon wird ausgemustert. Menschen wie ich sind längst Auslaufmodelle der digitalen Gesellschaft. Irgendwann bekommt der Endverbraucher vermutlich gleich einen Barcode eingepflanzt, mit dem er nonstop erreichbar ist. Gleich nach der Geburt schickt das Finanzamt schon jetzt die lebenslang gültige, elfstellige Steuer-Identifikationsnummer an die Eltern, die eigentlich zur Genüge mit Windelwechseln beschäftigt sind. Bald schon werden sicherlich Telekom und Co. auf die Stirn der Säuglinge eine 18-stellige Telefonnummer stempeln, mit der die Kleinen per Infrarotstrahl und UMTS-Netz an jedem Ort angepiepst werden können, auch im All und hundert Meilen unter dem Meer, bis an ihr seliges Ende.

Menschen wie ich müssen dann in den analogen Untergrund abwandern, wo sie mit Brieftauben und Rauchzeichen kommunizieren, stigmatisiert vom Makel, keinen Barcode auf der Stirn zu tragen. Ich will aber mein Tastentelefon behalten. Wenn es nicht mehr tutet, werde ich es von der Schnur nehmen, es in Spiritus einlegen wie eine tote Amöbe und mitnehmen in den Untergrund, wo ich mit Buntstiften analoge Telefonhörer an Höhlenwände malen werde.

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Erstellt:
10.03.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 11sec
zuletzt aktualisiert: 10.03.2016, 01:00 Uhr

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