Tübingen · Interview

Klimaschutz: „Fridays for Future“ stellt kommunale Forderungen

Die Tübinger Ortsgruppe von „Fridays for Future“ hat kommunale Forderungen erarbeitet und übergibt sie an OB Boris Palmer und den Gemeinderat.

15.01.2020

Von Lorenzo Zimmer

„Wir streiken, bis ihr handelt“: Ein Foto dieses Banners, das auch am 15. März 2019 bei der bis dato größten Fridays-for-Future-Demo in der Mühlstraße zu sehen war, prangt auf dem Titelblatt des Forderungskatalogs der Tübinger Klimaschutz-Aktivisten. Archivbild: Volker Rekittke

„Wir streiken, bis ihr handelt“: Ein Foto dieses Banners, das auch am 15. März 2019 bei der bis dato größten Fridays-for-Future-Demo in der Mühlstraße zu sehen war, prangt auf dem Titelblatt des Forderungskatalogs der Tübinger Klimaschutz-Aktivisten. Archivbild: Volker Rekittke

Der Jugendbewegung „Fridays for Future“ (FFF) schlägt bisweilen viel Kritik entgegen. Sie habe keine Expertise zu den wissenschaftlich nicht gerade trivialen Fragen der Erderwärmung und keine Ahnung von technologischen Lösungen der weitgehend unbestrittenen Umwelt-Misere. Zudem wurde der Vorwurf laut, „Fridays for Future“ mache zwar auf echte Probleme aufmerksam, biete jedoch keine Lösungen an.

Die Tübinger FFF-Ortsgruppe nahm sich genau diesen Vorwurf zu Herzen und hat in den vergangenen Monaten einen kommunalen Forderungskatalog ausgearbeitet. Dieser soll am kommenden Freitag bei einer Kundgebung an OB Boris Palmer und Stadträte übergeben werden. Das TAGBLATT erhielt die Forderungen vorab und sprach mit Tübinger FFF-Aktivisten, dem Physiotherapeuten Jannik Maisch (25), Schüler Adrian Lächele (17) und der Geographie-Studentin Paula Mayer (22), über ihre Positionen.

TAGBLATT: Worum geht es in Ihrem Forderungskatalog?

Jannik Maisch: Wir fordern: Tübingen bis 2030 klimaneutral. Zahlen zeigen: Die Emissionen aus Energie, Wärme und Verkehr liegen bei rund 6 Tonnen pro Kopf. Nur um das klarzumachen: Wenn wir von Klimaneutralität sprechen, beziehen wir das auf die so genannten energiebedingten Emissionen. Nur sie lassen sich von Seiten der Stadtverwaltung gut bilanzieren.

Was ist mit Fleischkonsum, mit Flugverkehr und den individuellen Dingen?

Jannik Maisch: Hier fordern wir, dass die Verwaltung ebenfalls etwas tut: durch Infoveranstaltungen und Kampagnen, durch Aufklärung zum Umwelt- und Klimaschutz.

Paula Mayer, 22. Bild: Lorenzo Zimmer

Paula Mayer, 22. Bild: Lorenzo Zimmer

Ist diese starke Reduktion der energiebedingten Emissionen realistisch?

Paula Mayer: Wir stellen fest, dass diese Emissionen von 2006 bis 2016 in Tübingen um 30 Prozent gesunken sind. Das klingt ganz gut, aber man muss klar sagen: Im gleichen Zeitraum von 11 Jahren müssen wir bis 2030 die verbleibenden Emissionen um nahezu 100 Prozent senken, um das Ziel zu erreichen.

Erzeugt nicht das menschliche Leben an sich schon Emissionen?

Jannik Maisch: Es wird Emissionen geben, die wir bis 2030 nicht abstellen können, das ist richtig. Aber so ist Klimaneutralität gemeint: Die Emissionen, die zwangsweise übrigbleiben, können über Kompensationen und Ausgleichsmaßnahmen angegangen werden.

Was bleibt denn übrig?

Paula Mayer: Das weiß man heute nicht genau. Beim Strom kann dieses 100-Prozent-Ziel gelingen, bei Wärme und Verkehr wird es eher schwierig. Übrigbleiben werden zum Beispiel Wohnungen, die jetzt gebaut wurden und nicht vollständig klimaneutral sind. Sie werden bis zum Jahr 2030 noch zu neu und gut sein, um sie guten Gewissens zu sanieren.

Adrian Lächele, 17. Bild: Lorenzo Zimmer

Adrian Lächele, 17. Bild: Lorenzo Zimmer

Was muss noch geschehen?

Adrian Lächele: Wir müssen uns überlegen, wie wir den Verkehr neu denken können. Wir müssen ran an die Energieversorgung, die Stadtwerke müssen weiter umrüsten auf Solarpaneele und Windkraftwerke. Unseren Informationen nach werden 100 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien durch die SWT bis 2030 möglich sein.

Wird der Strom dadurch teurer?

Adrian Lächele: Das hängt an der Energiepolitik des Bundes. Im Moment ist der Ökostrom für Tübingerinnen und Tübinger geringfügig teurer. Der Bund könnte diese Schieflage beheben.

Trotzdem wird der Klimaschutz Geld kosten. Wo soll es herkommen?

Jannik Maisch: Gegenfrage: Was bleibt uns anderes übrig, als dieses Geld in die Hand zu nehmen? Wenn wir nichts tun, werden die Folgekosten deutlich höher sein. Und wie immer werden es dann die ärmeren Menschen des Planeten sein, die diese Kosten am deutlichsten spüren werden. Es wird eine Entscheidung auf Bundesebene brauchen – zum Beispiel zur Vermögenssteuer –, um die Kosten des Klimaschutzes besser zu verteilen.

Jannik Maisch, 25. Bild: Lorenzo Zimmer

Jannik Maisch, 25. Bild: Lorenzo Zimmer

Viel diskutiert wird die Zukunft des Verkehrs in Tübingen ...

Paula Mayer: Dem Auto sollten die Vorteile weggenommen und auf der anderen Seite die Alternativen gestärkt werden. Das bedeutet vor allem einen Ausbau des ÖPNV und der Infrastruktur für Fahrräder. Der motorisierte Individualverkehr ist nicht mehr zukunftsfähig.

Dieser Wandel ist in Tübingen für viele schon deutlich spürbar.

Paula Mayer: Wenn das so empfunden wird, ist das schön. Aber wir möchten, dass Autofahren in Tübingen noch unangenehmer wird.

Müssen ÖPNV und Fahrräder nicht gestärkt werden, bevor man den Autoverkehr gezielt reduzieren kann?

Adrian Lächele: Wir können Klimaschutz nicht umsetzen, wenn wir niemandem wehtun. Auf Tübingen bezogen heißt das: Ein kostenloser ÖPNV könnte nach Palmers Vorschlag von 2017 mit Steuererhöhungen realisiert werden. Dagegen sperrt sich auch der Handel- und Gewerbeverein. Wir sagen: Autofahren, das bisher unter anderem beim Parken subventioniert wird, wird teurer, und von diesem Geld finanzieren wir den ticketfreien ÖPNV.

Was ist mit denen, die aufs Auto angewiesen sind und wenig Geld haben?

Paula Mayer: Wir fordern einen städtischen Verleih von Lastenrädern und E-Bikes.

Adrian Lächele: Sharing-Angebote in städtischer Trägerschaft würden ermöglichen, dass man sie – etwa über das vorhandene System der so genannten Kreisbonuscard – sozial gerechter und bequemer gestalten könnte.

FfF-Aktivist Adrian Lächele zu neuen Forderungen
© Moritz Hagemann 01:40 min
„Fridays for Future“ will Tübingen nachhaltig klimaneutral machen. Und hat deshalb einige Forderungen zusammengetragen, die Aktivist Adrian Lächele im Interview mit TAGBLATT-Redakteur Lorenzo Zimmer schildert. Video: Moritz Hagemann

Die kommunalen Forderungen von „Fridays for Future“

In einem zehnseitigen Forderungskatalog nehmen die Schülerinnen, Schüler, jungen Berufstätigen und Studierenden aus dem Organisationskomitee von „Fridays for Future“ in Tübingen Stellung dazu, wie die so genannte energiebedingte Klimaneutralität Tübingens bis zum Jahr 2030 gelingen kann. Die wichtigsten Punkte im Überblick:

- FFF begreift die Klimakrise „als die größte Bedrohung für Menschheit und Ökosysteme im 21. Jahrhundert“. Während die Welt auf so genannte Kipp-Punkte des Klimas zusteuere, sei ihre Generation, so die Aktivisten, „die erste, die die Folgen der Erderwärmung spürt und gleichzeitig die letzte, die sie aufhalten kann.

- Die Aktivisten appellieren in ihrem Vorwort an die Vorbildfunktion Deutschlands und „einer Stadt wie Tübingen“. Sie leiten daraus die Verantwortung ab, die Emissionen aus Verkehr, Energie und Wärme auf Nettonull zu bringen.

- Um der Umweltverschmutzung durch individuellen Konsum, Landwirtschaft und Flugreisen entgegenzuwirken, soll die Stadt Ausgleichsmaßnahmen und Informationskampagnen starten.

- FFF fordert einen Klimavorbehalt als Grundprinzip in Gemeinderat und Verwaltung. Er bedeutet, dass jede Entscheidung auf ihre Auswirkungen aufs Klima überprüft werden muss.

- Beim Verkehr fordern die Aktivisten ein völliges Umdenken. Ein ticketfrei nutzbarer ÖPNV soll durch deutlich erhöhte Park- und Dauerparkgebühren, bei gesunkenem Autoverkehr eventuell durch eine Nahverkehrsabgabe und Kurtaxe oder höhere Steuern finanziert werden.

- Es sollen neue Fahrradstraßen entstehen und das Auto weitgehend aus der Stadt verdrängt werden. FFF wünscht sich einen städtischen Verleih von Lastenrädern und E-Bikes für Bürger, die auf solche Angebote angewiesen sind.

- Die Tübinger Stadtwerke sollen bis 2030 ausschließlich Ökostrom vertreiben.

- Statt neu zu bauen, wollen die Aktivisten bestehende Wohnungen sanieren und dadurch energieeffizienter machen. Es gelte, das Fernwärmenetz auszubauen, um von Heizungen mit Erdgas und Öl wegzukommen.

- Die Aktivisten fordern, die städtischen Beratungsangebote zu Klima und Umwelt zu erweitern und wollen, dass Tübingen energieeffiziente Sanierungen finanziell unterstützt.

- FFF stellt sich hinter die Idee einer Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn. Es gelte, Alternativen zu prüfen – im Vordergrund müsse jedoch stehen, ein umweltfreundliches Verkehrskonzept auch für Tübingens Ein- und Auspendler zu entwickeln.

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Erstellt:
15.01.2020, 14:13 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 23sec
zuletzt aktualisiert: 15.01.2020, 14:13 Uhr

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