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Kinder früher aufwachen lassen

Felix Neunhoeffer ist Oberarzt auf der Kinderintensivstation und hat vor Jahren etwas angestoßen, das immer wichtiger wird.

21.01.2023

Von Lisa Maria Sporrer

Die Ärzte Juliane Engel und Felix Neunhoeffer arbeiten auf der Kinder-Intensivstation der Tübinger Uniklinik. Bild: Ulrich Metz

Die Ärzte Juliane Engel und Felix Neunhoeffer arbeiten auf der Kinder-Intensivstation der Tübinger Uniklinik. Bild: Ulrich Metz

Früher, sagt Felix Neunhoeffer, wurde jedes Kind auf der Intensivstation erstmal sediert. Früher – damit meint der Kinderintensivmediziner 10 bis 15 Jahre. Und bei den Sedativa handelte es sich oft auch nicht nur um leichte Beruhigungsmittel, vielmehr um Medikamente für eine Art künstliches Koma. In diesem Setting, sagt Felix Neunhoeffer, habe er Intensivmedizin gelernt – und merkte ziemlich schnell, dass es eines Umdenkens bedarf.

Neunhoeffer ist Oberarzt auf der Kinderintensivstation des Tübinger Uniklinikums. Er hat die Kinder gesehen, die trotz künstlichen Komas immer wieder ungesteuerte Aufwachphasen hatten. Er kennt die Studien, die nachweisen, dass das Gehirn trotz Koma über das Ohr immer auf Empfang geschaltet ist, dass Patienten im Koma Geräusche abspeichern, die das Gehirn nicht verarbeiten, nicht zurodnen kann und die dann für Unruhe und Angst und Hilflosigkeit sorgen.

Es seien auch Kleinigkeiten, die diese Unruhe verursachen, sagt Neunhoeffer. Etwa, wenn ein Kind auf einem Bettlaken liegt, das eine Falte hat. „Das spürt das Kind auch, wenn es tief sediert ist“, sagt der Oberarzt. Das ist unangenehm. Es wird unruhig. Aber es kann sich eben nicht mitteilen, was es stört. Eine frühe Aufwachphase bei Kindern sei enorm wichtig, sagt auch die Ärztin Juliane Engel. Engel arbeitet in einer Arbeitsgruppe, die das Auftreten von Delir-Zuständen bei Kindern wissenschaftlich untersucht. Welches sind die Auslöser für ein Intensiv-Delir, wie kann man diese Auslöser reduzieren, und welche Therapieansätze gibt es? Diese Fragen müssen evaluiert werden, um daraus Schlüsse für die Klinikarbeit ziehen zu können. „Wir machen in der Klinikarbeit noch immer Dinge mit Kindern, die wir eigentlich besser wissen“, sagt Neunhoeffer. „Wir sollten es aber so machen, wie wir die eigenen Kinder behandelt wissen wollen.“

2013 nahm sich der Tübinger Arzt des Problems an. Denn eine tiefe und lange Sedierung kann zu einem richtigen Problem führen, einem Intensiv-Delir etwa. Das Intensiv-Delir bei Kindern ist ein wenig erforschtes Phänomen. Es kann nicht nur Traumata verursachen, sondern auch mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergehen. Das wissen Mediziner aus der Erwachsenenforschung. Bei Kindern gab es solche Studien lange Zeit nicht. Dabei ist ein Delir nichts, was auf die leichte Schulter genommen werden sollte, sagt Neunhoeffer. „Ein Delir ist als Organversagen zu sehen.“

Die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Tübingen nahm das Thema ernst. Im vergangenen Jahr zählte die Kinderklinik rund 11 600 stationäre Patienten. Davon wurden 844 Kinder auf der Intensivstation behandelt, und von diesen 844 Kindern war fast jedes dritte von einem Delir betroffen. Ein Zustand, der verhindert werden kann, wenn er früh erkannt wird und wenn schnell gegengearbeitet wird.

Dazu gehört auch, weniger Medikamente zu verabreichen. Weniger Medikamente bedeutet aber auch für die Intensivkräfte mehr Arbeitsaufwand. „Es ist schwierig, althergebrachte Traditionen aufzuberechen“, sagt Neunhoeffer. Das gelinge nur mit ganz vielen kleinen Schritten. Diese Schritte werden seit vielen Jahren in der Tübinger Kinderklinik gegangen. Während das in anderen Klinik noch praktiziert wird, werden in Tübingen keine Kinder mehr routinemäßig ins künstliche Koma versetzt.

Außerdem untersucht die Kinderklinik seit 2016 das Auftreten des Delirs anhand von routinemäßigen Screenings. Auch das machen nur rund ein Viertel der Kinderkliniken bundesweit. Anfang 2017 führte das Ärzteteam sogenannte Delir-Bundles ein – das sind verschiedene nicht-medikamentöse Maßnahmen, die den Kindern helfen sollen, den Delir-Zustand möglichst rasch zu überwinden. Im April 2018 konnten schließlich über Spendengelder zwei Heilerziehungspflegerinnen eingestellt werden. Mittlerweile arbeitet die Klinik auch mit dem SOS-PD-Score, mit dem Kinder nach Herzfrequenz oder Schlafstörungen untersucht werden können, und der anhand von verschiedenen Parametern eine zuverlässige Diagnose abgibt, ob ein Delir vorliegt.

Und die Schritte, über die Neunhoeffer spricht, gehen noch weiter: Die Ärztin Juliane Engel leitet seit 2021 das Projekt „pädiatrisch interprofessionell modifizierte ABCDEF-Bundles“. Im Ansatz geht es um die Intensivmedizin, die sich auf Familien konzentriert. Die Buchstaben A, B und C stehen für Atmen, künstliche Beatmung und Sedierung. D ist das Delirmanagement, F die Familien (F). Das Projekt, so Engel, solle mit seinen Maßnahmen langfristig gesehen die Intensivmedizin bei Kindern verändern.

Auch Eltern, sagt Felix Neunhoeffer, sollten als Ressourcen für das Kind verstanden werden. Und sie sollten auch während des Klinikaufenthalts ihrer Kinder besser begleitet werden. Auch das leisten die beiden Heilerziehungspflegerinnen, deren Stellen aber immer noch über Spenden finanziert werden müssen.

Noch bis Ende Januar kann gespendet werden

Spenden können Sie auf das TAGBLATT-Konto bei der Kreissparkasse Tübingen (IBAN: DE94 6415 0020 0000 1711 11). Vermerken Sie, wenn Sie eine Spendenquittung benötigen, und fügen in diesem Fall Ihre vollständige Adresse hinzu. Bei Beträgen bis 300 Euro akzeptiert das Finanzamt einen Kontoauszug. Wollen Sie ein bestimmtes Projekt unterstützen (Projekt 1 „Kinder im Intensiv-Delir“ oder Projekt 2 „Tafel“), bitten wir um einen entsprechenden Vermerk. Gemäß Art. 13 DSGVO sind wir verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass wir Name, Adresse und Spendenbetrag der Leser und Leserinnen, die eine Spendenbescheinigung wünschen, an die begünstigten Organisationen übermitteln.

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Erstellt:
21.01.2023, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 34sec
zuletzt aktualisiert: 21.01.2023, 01:00 Uhr

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