Kommentar · 75 Jahre

Journalismus ist nötiger denn je

Gernot Stegert mit dem Weckruf: Lokalzeitungen sind bedroht

17.12.2020

Von Gernot Stegert

Titelseite der ersten Ausgabe des Schwäbischen Tagblatts vom 21. September 1945. Bild: Tagblatt-Archiv

Titelseite der ersten Ausgabe des Schwäbischen Tagblatts vom 21. September 1945. Bild: Tagblatt-Archiv

1945 mussten die Gründer des TAGBLATTS Papier organisieren, politisch unbelastete Redakteure suchen, Aufbauarbeit leisten. Heute kämpfen Zeitungen gegen die Zersetzung der Gesellschaft durch Wirklichkeitsleugner und um die eigene wirtschaftliche Zukunft.

In der Corona-Krise sind einmal mehr nicht die am lautesten, die diesen oder jenen Beschluss der Bundes- und Landesregierungen kritisieren. Das wäre ja eine sinnvolle und nötige Debatte um Tatsachen und Argumente. Sie hätte die Realität und Vernunft als gemeinsame Basis. Die vermeintlichen „Querdenker“ aber leugnen Fakten. Als Impfgegner verweigern sie auch das Serum der Information. Schlimmer noch, sie beschimpfen Andersdenkende und „die Medien“. Einmal mehr werden die Boten für die Botschaft geschlagen, am Rande von Demonstrationen auch im Wortsinne. Noch wurden die Journalisten und Journalistinnen des TAGBLATTS nicht verprügelt. Aber was ich vor Jahren für unmöglich gehalten hätte, schließe ich nicht mehr aus.

Die Gereiztheiten und Aggressionen breiten sich viral aus. Immer wieder ploppen anonyme Hassmails auf oder landen im Briefkasten. Auch ohne Bedrohungen stimmt etwas nicht mehr: Da werden Kommafehler der Redaktion mit Häme unter die Nase gerieben. Da sollen sich Schreiber nach einem Fehler gleich einen neuen Job suchen. Da wird ohne Zucken das Abo, teils nach 20, 30 Jahren, gekündigt, wenn etwas nicht passt. Umgangsformen zerbröseln auch in der akademisch gebildeten bürgerlichen Mitte.

Kritik ja, wir machen schließlich Fehler, und Diskussionen über unsere Gewichtungen und Bewertungen gehören dazu. Doch beschimpfen oder gar verunglimpfen nein. Vieles stecken wir auch in Leserbriefen öffentlich ein, aber nicht alles. Als Journalist muss man eine dicke Haut haben, haben wir auch, doch als Symptom des Miteinanders in einer Gesellschaft geben die Gehässigkeiten und die irrationalen Realitätsverweigerungen zu Denken. Sie zeigen, dass Journalismus nötiger denn je ist.

Journalismus aber kann auf Dauer nur von gut ausgebildeten Journalistinnen und Journalisten betrieben werden. Die brauchen ein faires Gehalt, um ihre Arbeit zu tun. Das TAGBLATT zahlt anders als viele andere Medien Tariflohn. Das setzt verlässliche Einnahmen voraus. Diese sinken jedoch seit diesem Jahrtausend stetig. Beim TAGBLATT weniger als im Landes- und Bundesschnitt, aber doch merklich. Und im Netz wollen viele nichts bezahlen. Da ist von der „Gratiskultur“ die Rede. Herrscht diese etwa im Supermarkt, beim Bäcker, in der Buchhandlung, beim Textilgeschäft? Spricht da jemand abschreckend von einer „Bezahlschranke“? Wird nicht für Netflix ein Abo gekauft?

Soll das TAGBLATT weiter all die unverzichtbaren Aufgaben einer Lokalzeitung in der Region Tübingen erfüllen, dann müssen vor allem die bis 35-Jährigen die Vorteile entdecken. Will diese Generation wirklich ohne umfassende Informationen, Argumente und kritische Debatten über ihr konkretes Lebensumfeld auskommen? Das bieten keine Foren sozialer Medien. Das Lokale gibt es nicht in den überregionalen Medien. Und das TAGBLATT lässt sich auch ganz smart auf dem Smartphone lesen.

Der erste TAGBLATT-Leitartikel von 1945 in „moderner Schrift“

In seinem Leitartikel für die erste Ausgabe des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS rechnete Josef Forderer, der erste Chefredakteur der Zeitung, in klaren und eindringlichen Worten mit der „politischen Denkfaulheit und Interessenlosigkeit“ des deutschen Volkes ab. Das Volk und seine demokratiefeindliche Einstellung machte Forderer verantwortlich für den Aufstieg der Nazis und den Untergang der Weimarer Republik. Für den Kommentar, den wir am 21. September aus Anlass des Jahrestags der TAGBLATT-Gründung, im Faksimile und in altdeutscher Schrift abdruckten, interessierten sich spontan etliche Leser. Viele baten uns, den Beitrag in moderner Schrift zur Verfügung zu stellen – auch für den Schulunterricht. uja

Wir stellen den Artikel von 1945 jetzt im Internet zur Verfügung.

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Erstellt:
17.12.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 49sec
zuletzt aktualisiert: 17.12.2020, 01:00 Uhr

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