Jonglage fatal
Leitartikel zum Corona-Gipfel
Den schlimmsten Fehler haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten schon wieder begangen, wenn sie sich jetzt zum nächsten Corona-Gipfel treffen, um hoffentlich einen gemeinsamen Plan für Lockerungen zu beraten.
Denn das wertvollste Werkzeug unserer Demokratie, die parlamentarische Debatte über die Maßnahmen, die seit beinahe einem Jahr unser Leben und unsere Grundrechte einschränken, ist, trotz heftiger Kritik sogar aus den Regierungsparteien selbst, einmal mehr außen vor geblieben. Dabei wäre sie als Leitplanke, ja als Rückhalt gerade für die Regierenden so ungeheuer wichtig. Denn die politischen Entscheider befinden sich in der Pandemie in einer nie dagewesenen Zwickmühle. Sie müssen ständig Kompromisse finden, wo es keine gibt.
Ihre Aufgabe gleicht der eines Artisten, der auf diversen Rollen und Bällen balanciert und dabei mit rohen Eiern jongliert. Die Eier sind die Gesundheit der Menschen, die wirtschaftliche Stabilität des Landes und Kontinents und der Frieden der Gesellschaft. Die Rollen und Bälle sind Eltern und Schüler, Handel und Gewerbe, Gastronomie, Kino und Theater, Ärzte, Pfleger und Patienten, Sportler und Touristen, dazu jede Menge Experten, Alte und Junge, einfach alle, einfach wir.
So viele Individuen und Parteien haben gleichzeitig noch nie zu einem Thema ihre Interessen bekundet, ihre Ansprüche angemeldet, ihre Meinung beigetragen, geglaubt es besser zu wissen und ihre Kritik lautstark geäußert. Es gibt seit dem Zweiten Weltkrieg kaum Ereignisse oder Themen, die an die Dimension von Corona heranreichen. Auf keinen Fall waren die Ölkrisen der 1970er-Jahre, der Deutsche Herbst, auch nicht Mauerfall und Wiedervereinigung, ja nicht einmal die Flüchtlingswelle 2015 derart ambivalente, ja zerreißende Gemengelagen. Keine war für die Regierenden so explosiv.
Leider haben Regierung und Opposition in der Pandemie viele Chancen vertan, den hohen Wert von Politik sichtbar werden zu lassen. Wäre dies gelungen, hätten die Menschen Fehler verziehen, die sicher unvermeidbar waren, weil man Pandemie nicht üben konnte. Jens Spahns Prognose zum Ausbleiben eines zweiten Lockdowns war zum Beispiel einer davon.
Aber die Uneinigkeit und Unzuverlässigkeit, die schnelle Wortbrüchigkeit und die Egoismen der Corona-Gipfel-Mitglieder und die sich jeweils anschließenden freien Interpretationen der Beschlüsse durch die Länder waren und sind nicht nur eine Zumutung für die Bevölkerung. Sie sind brandgefährlich. Denn sie lassen den Wert unseres parlamentarischen Systems verblassen, den unseres Föderalismus fast bis zur Unsichtbarkeit. Sie stellen auch Europa infrage, denn wie soll ein Kontinent zu einen sein, wenn es 16 deutsche Bundesländer nicht schaffen, in einer Lage, in der es doch um Leben und Tod geht? Und sie laufen Gefahr, im Superwahljahr 2021 undemokratischen Kräften den Weg zu bereiten. Das darf die Corona-Gipfel-Runde nicht länger ignorieren.